Merkel in Marxloh "Dafür habe ich keine Patentlösung"

Duisburg · Ortstermin Johannismarkt, Marxloh, früher Vormittag. In einem der ärmsten Viertel Deutschlands ist tagelang geputzt worden. Jetzt fahren Übertragungswagen über die Hauptstraße, an der türkische Brautmodengeschäfte sich mit orientalischer Opulenz gegen Marxlohs krassen Ruf stemmen.

 Bürgerdialog im Problem-Stadtteil: Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern im Hotel Montan in Duisburg-Marxloh.

Bürgerdialog im Problem-Stadtteil: Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern im Hotel Montan in Duisburg-Marxloh.

Foto: dpa

Journalisten aus der Hauptstadt stapfen wacker weiter zum Hotel Montan, wo Kanzlerin Angela Merkel in den Bürgerdialog treten will - mit ihren schicken Frisuren, ihren teuren Markenbrillen wirken sie hier, der angeblichen Bronx von NRW, wie vom anderen Stern.

Unsicher blicken die Reporter in verwitterte Hauseingänge und auf blinde Scheiben, auf Frauen mit Kopftuch, zahnlose Senioren, Migrantenkinder, Jugendliche in Lauerstellung. Es wird ungeniert zurückgestarrt - aber auch gelächelt. Wer hier wen studiert, das ist gar nicht so klar.

Die Besitzerin der Trinkhalle am Platz, die wie so viele andere im Viertel nicht mit Namen in der Zeitung stehen will, ist zum Bürgerdialog nicht eingeladen. Auch nicht ihr Kumpel, der eine Teestube führt - und auch nicht Rentner Hansi, der hier ein paar Bierchen Proviant für den Tag besorgt.

Trotzdem haben sie eine informierte Meinung, die sie gerne teilen. "Ich bin jetzt 34 Jahre alt und in all den Jahren hat sich hier kein Bundespolitiker blicken lassen", sagt die Verkäuferin. Was sie von Merkel erwartet? "Nichts. Sie macht doch sowieso, was sie will." Hansi packt sein Bier und brummt zustimmend. "Merkel kommt 20 Jahre zu spät", sagt ein anderer Kunde, "jetzt lässt sich nichts mehr ändern."

Wer kann, zieht weg

Außer Hansi haben am Büdchen alle türkische Eltern und Großeltern. Einst wohnten und schufteten die Neuankömmlinge mit den Deutschen Seite an Seite im Thyssen-Werk nebenan. Jetzt sind die engen, billigen Gründerzeitbehausungen, einst für die Arbeiter am Werksgelände hochgezogen, Magnet für Rumänen und Bulgaren. Einbrüche, Prostitution, Massenschlägereien nehmen zu. Wer kann, zieht weg - auch die Deutschtürken, die es sich leisten können.

"Ich mag Marxloh trotzdem", sagt die Verkäuferin, "ich bin hier geboren und groß geworden." Gefährlich findet sie es nicht, aber schön eben auch nicht mehr. Die Nachfahren der türkischen Einwanderer fürchten um die Lebensqualität ihres Marxlohs.

So viel Heimatstolz könnte jeden Duisburger Integrationsbeauftragten zu Tränen rühren - wäre da nicht der Stress, den jede neue Zuwanderungswelle von Arabern, Kurden, Libanesen und Südosteuropäern auslöst. Polizisten fahren nur noch mit Verstärkung ins Viertel. Nehmen sie einen banalen Auffahrunfall auf, so klagen sie, sehen sie sich umringt von gewaltbereiten Familienclans. Mittlerweile hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger, selbst Duisburger, Unterstützung für Marxloher Beamte angeordnet.

Versammlung mit 40 Marxloher

"Mir scheint so, als gäbe es hier einiges zu bereden", sagt Angela Merkel dann auch zur Begrüßung im Hotel Montan mit dem ihr eigenen Gestus der Untertreibung. Etwa 40 Marxloher - Lehrer, Ehrenamtler, Thyssen-Rentner, Migranten - sind im Halbrund ganz nah um die Kanzlerin platziert worden.

Im Stil der amerikanischen "Town Hall Meetings" sollen die Versammlungen der Politik Inspiration liefern, was Bürger sich für ein "gutes Leben" wünschen. Merkel besucht dazu Rostock, Nürnberg und Duisburg - und schnell wird klar, dass sie in den neunzig Dialog-Minuten in Marxloh das Thema Sicherheit abklopfen will. Klar wird auch: Die Geladenen wollen lieber über Chancen und Bildung sprechen.

"Hier gibt es viele Kinder aus Südosteuropa, die nicht beschult werden", klagt etwa Pater Bernhard, "viele, die nicht krankenversichert sind. Wir brauchen dringend Hilfe. Ich hoffe, Sie haben ein großes Ohr mitgebracht." Merkel holt weit aus, spricht über das Problem einer fehlenden, gemeinsamen EU-Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Darüber, dass man nicht jeden Armutsmigranten aus der EU in Deutschland versichern könne: "Das ist die Härte der Politik."

Merkel bleibt eisern

Für die Duisburger, die an der Basis kranke Zuwanderer behandeln und Kinder unterrichten, ist der Merkelsche Theorie-Exkurs keine Antwort. "Dann frage ich Sie", entgegnet Merkel, "was würden Sie an meiner Stelle machen?" Ein Bumerang. "Ich frage erst gar nicht, was Sie an meiner Stelle machen würden", gibt der Geistliche zurück, "wir haben konkrete Probleme, die wir nicht allein stemmen können."

Merkel bleibt eisern: "Wir müssen denen helfen, die wirklich Hilfe brauchen. In Rumänien und Bulgarien herrscht kein Bürgerkrieg." Ein Vertreter der alevitischen Gemeinde moniert, dass Marxloh als problematisches Pflaster mehr Lehrer brauche als das noble Düsseldorf; andere merken an, dass älteren, türkischen Frauen der Zugang zum Studium erleichtert werden müsse. Merkel verspricht, die Voraussetzungen zu prüfen.

Besonders pikiert reagiert sie, als ein Deutschtürke kritisiert, dass es keine Zuwanderer in der örtlichen Bezirksvertretung gebe. "Stellen Sie sich nicht auf oder werden Sie nicht gewählt", fragt Merkel scharf zurück. Als das Wörtchen Diskriminierung fällt, geht ein Ruck durch die Kanzlerin: "Das muss ich doch mal prüfen." Und fügt an: "Eine Gesellschaft, die nicht offenherzig ist, darf sich nicht wundern, dass die, die gekommen sind, sich nicht integrieren."

Von Schleppern und Schleusern in Marxloh berichten ihr die Menschen, von unsinnigen Hürden für sinnvolle Projekte, von Feuerwehrmännern, die bei Löscharbeiten mit Böllern beschossen werden. Viele Anregungen, so verspricht die Kanzlerin, will sie an "Frau Schwesig, Frau Nahles und Frau Löhrmann" weiterleiten. Manchmal räumt sie offen ein: "Dafür habe ich keine Patentlösung, aber ich durchdenke das."

Merkel will interne Gespräche führen

Noch dieses Jahr will die Kanzlerin eine interne Beratungsrunde mit Marxlohern auf den Weg bringen - ohne Presse. Dass ihr Besuch Marxloh nämlich nicht nur ehrt, sondern erst recht als Problemviertel dastehen lässt, nimmt ihr mancher Gast im Hotel Montan auch übel: "So schlimme Presse wie in diesen Tagen hatten wir seit acht Jahren nicht mehr. Die Jugendlichen schämen sich mittlerweile, zu sagen, dass sie in Marxloh wohnen."

An der Trinkhalle am Johannismarkt hofft man derweil auf die "Neuen": die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. "Wir hoffen, dass sie so sind wie unsere Väter und Großväter", sagt der Teestubenbesitzer, "dass sie nicht klauen, sondern hart arbeiten und ihre Familie hier zusammenführen." Für Frau Merkel haben sie eine herzliche Einladung parat: "Die Kanzlerin soll mal einen Monat hier wohnen, nicht nur kurz zu Besuch kommen." Eine Zusage kann am Kiosk am Johannismarkt hinterlassen werden.

Duisburg-Marxloh

  • Marxloh hat 19.000 Einwohner und ist ein junger und bunter Ortsteil. Das Durchschnittsalter beträgt 37,2 Jahre, jeder vierte Marxloher ist unter 18 Jahren. Der Ausländeranteil liegt bei 45 Prozent. Angehörige von 92 Nationalitäten leben dort.
  • 43,5 Prozent der Bevölkerung sind auf staatliche Hilfe angewiesen. Die Stadt Duisburg hatte im Juli mit 13,2 Prozent die vierthöchste Arbeitslosenquote in Westdeutschland - der Stadtteil Marxloh im Norden lag mit 16,2 Prozent noch deutlich darüber.
  • Ob Feinstaub-Belastung, Verkehr oder Straßenlärm: Duisburg-Marxloh zählt zu den Stadtvierteln mit der höchsten Umweltbelastung. Ein großer Teil der Gebäude ist auch sanierungsbedürftig.
  • Viele Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien kommen nach Marxloh. Seit Ende 2012 hat sich ihr Anteil in der Bevölkerung fast verdreifacht (Stand 31.12.2014: 3000). Knapp die Hälfte der im vergangenen Jahr nach Marxloh gezogenen Bulgaren und Rumänen waren Kinder und Jugendliche (46 Prozent).
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