Interview mit Grünen-Chefin Annalena Baerbock: „Es helfen nicht nur warme Worte“

Berlin · Die Grünen-Chefin Annalena-Baerbock spricht im Interview über den Frauentag, die Pflege und die Lage an der türkisch-griechischen Grenze.

 Teil der Grünen-­Doppelspitze: Annalena Baerbock.

Teil der Grünen-­Doppelspitze: Annalena Baerbock.

Foto: dpa/Felix Kästle

Frauenrechte sind für sie ein Gradmesser für den Stand von Demokratien. Es müsse sich weltweit noch einiges tun.

Frau Baerbock, der Internationale Frauentag – ist das für Sie ein Feiertag, ein Gedenktag oder ein Kampftag?

Annalena Baerbock: Alles zusammen. Es ist ein Kampftag nach wie vor, weil Frauenrechte in den vergangenen 100 Jahren nicht einfach so vom Himmel gefallen sind. Die wurden errungen, immer und immer wieder. Egal ob beim Wahlrecht, dem Recht, ohne die Unterschrift des Mannes arbeiten zu dürfen, oder beim Recht auf gleiche Entlohnung – dafür haben Frauen kämpfen müssen. Es ist aber auch ein Feiertag, an dem wir all die großen Frauen feiern, denen etwa meine Generation viel zu verdanken hat. Und es ist auch ein Gedenktag, an dem wir erinnern, wofür wir so hart gekämpft haben und jener Frauen gedenken, die dafür angegriffen worden sind und immer noch werden, aufgrund ihres Geschlechts.

Stehen Frauen und ihre Rechte heute wieder oder weiter unter Druck?

Baerbock: Frauenrechte sind ein Gradmesser für den Stand von Demokratien. Weltweit. Im Positiven wie im Negativen. Es gehen weltweit so viele Mädchen zur Schule, wie nie zuvor. Finnland hat die weiblichste und jüngste Regierung jemals. In Russland wiederum sind Strafen bei Gewalt gegen Frauen herabgestuft worden. In den USA wurde ein Mann zum Präsident gewählt, der den Eindruck vermittelt hat, als gehörten sexuelle Übergriffe zur Normalität. Und in Deutschland beobachten wir in den sozialen Medien, dass zunehmend stark gegen Frauen gehetzt wird, bis hin zu Vergewaltigungsfantasien. Die Verbindung von rassistischen mit sexistischen Angriffsmustern ist kein Zufall.

 In der Pflege arbeiten in der Mehrzahl Frauen. Wird die Pflege erst zu einem attraktiven Beruf auch für Männer, wenn die Arbeit dort genauso gut bezahlt wird wie Facharbeiter im Handwerk?

Baerbock: Ja, auch diese Lohnungleichheit ist kein Zufall. Wir widmen daher den Internationalen Frauentag in diesem Jahr den Pflege- und Fürsorgekräften in Deutschland. Jede dritte erwerbstätige Frau arbeitet in einem der sogenannten Care-Berufe. Das sind Erzieherinnen, Hebammen, Kranken- und Altenpflegerinnen. Sie kümmern sich um unsere Eltern und Kinder und wir verlassen uns auf sie, wenn wir selbst in Notlagen geraten. Sie sind das Rückgrat unserer Gesellschaft, erfahren aber für ihre wertvolle Arbeit nicht die entsprechend Anerkennung. Da helfen also nicht nur warme Worte zum Frauentag, sondern es muss sich politisch etwas ändern.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Not in der Pflege zu einem seiner Hauptthemen gemacht. Hat sich schon etwas zum Besseren verändert?

Baerbock: Gut ist, dass es endlich eine gesellschaftliche Debatte gibt. Aber entscheidend ist: Was folgt daraus? Die Konzertierte Aktion Pflege, auf die sich die Bundesregierung zurückzieht, scheint offenbar nicht die erhofften Früchte zu tragen. Heute sind 40 000 Stellen in der Pflege unbesetzt. Bis 2030 bräuchten allein die stationären Pflegeeinrichtungen bis zu 74:000 Pflegefach- und bis zu 112:000 Pflegeassistenzkräfte zusätzlich. Wir brauchen deutlich mehr Fachkräfte, nicht nur in der Pflege, sondern ebenso in Kitas. Die gewinnen wir aber nur, wenn sich neben angemessenen Löhnen die Arbeitsbedingungen ändern. Die tägliche Arbeitsrealität – dass eine Person für zwei oder drei arbeiten muss – führt dazu, dass viele irgendwann sagen: Ich kann einfach nicht mehr. Die Folgen sind ein früherer Ausstieg aus dem Beruf, viele Krankheitsfälle oder Arbeiten in Teilzeit, was bei dem ohnehin geringen Lohn auch noch zu der Schwierigkeit führen kann, finanziell mit der Familie nicht über die Runden zu kommen. An diese gesellschaftliche Ungerechtigkeit müssen wir ran.

Was schwebt Ihnen vor?

Baerbock: Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Berufen mit einer hohen psychischen und physischen Arbeitsintensität, wie der Pflege, die aufs Kreuz gehen und in denen Menschen im Zweifel auch schon mit 50 Jahren aufgeben müssen, zu einer Arbeitszeitverkürzung kommen: Also 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich.

Wie lange kann die EU zusehen, dass die Türkei ein zynisches Spiel treibt und versucht, Europa mit den Flüchtlingen zu erpressen?

Baerbock: Europa muss seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Das zynische Spiel funktioniert ja vor allem, weil die EU nun in Panik verfällt und auf diejenigen, die als Spielmasse von Herrn Erdogan missbraucht werden, mit Tränengas geschossen wird. Es steht gerade die Flüchtlingskonvention auf dem Spiel. Und damit ein fundamentales Grundrecht der EU. Wenn jetzt ein Mitgliedstaat ein Grundrecht aussetzt und alle schweigen, wo hört das auf? Heute ist es das Recht auf Asyl in Griechenland. Und morgen die Meinungsfreiheit in Ungarn? Ja, es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, die EU-Außengrenze nicht unkontrolliert zu öffnen, dazu gehört aber gleichzeitig unserer humanitäre Schutzverantwortung und die Verteidigung unsere Werte.

Muss das EU-Türkei-Abkommen nachverhandelt werden?

Baerbock: Dieser Deal ist gescheitert. Nicht erst in den letzten Tagen, sondern in den furchtbaren Lagern von Lesbos, wo vor wir Grüne immer gewarnt hatten. Statt dieses gescheiterten Deals brauchen wir ein neues, rechtsstaatlich garantiertes Abkommen, das aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, dafür sorgt, dass Menschen gut versorgt sind und die 27 EU-Staaten nicht wie Dominosteine umfallen, wenn Erdogan einmal pustet. Europäische Souveränität zeigt sich darin, dass die EU weitere verbindliche finanzielle Zusagen macht für die Unterstützung der über vier Millionen Geflüchteten in der Türkei. Sie brauchen Zugang zu Schulen, Krankenhäusern und zum Arbeitsmarkt. Zu einer funktionierenden Vereinbarung gehört auch die verlässliche Zusage für die Umsiedlung von besonders schutzbedürftigen Menschen aus der Türkei nach Europa – gerade im Lichte der zugespitzten Situation in der Region Idlib. Die türkische Seite muss hingegen aufhören, Menschen als Verhandlungsmasse zu missbrauchen und die Rechte von Schutzbedürftigen wahren.

 Da kommt Russland ins Spiel…

Baerbock: Ja, wir erleben doch seit Jahren, dass Staaten wie Russland die Lücke dort füllen, und zwar mit Gewalt – wo die EU untätig bleibt oder versagt. Nun gibt es eine Einigung zwischen Russland und der Türkei für eine Waffenruhe in der syrischen Region Idlib. Für die internationale Gemeinschaft heißt das, es muss unverzüglich humanitäre Nothilfe ins Land, ein humanitärer Korridor muss geschaffen werden, damit Kinder nicht weiter erfrieren. Und es braucht die knallharte Ansage der EU: Wenn wieder Bomben fallen auf Zivilisten und Krankenhäuser, dann wird es individuelle Sanktionen geben.

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