Interview mit Grünen-Politikerin Anja Piel: "Minderheitsregierung ist spannend"

Berlin · Anja Piel möchte neue Bundesvorsitzende der Grünen werden. Im Interview spricht sie über ihre Chancen und Koalitionen.

An diesem Freitag beginnt in Hannover ein Bundesparteitag der Grünen. Ein wichtiger Punkt: die Wahl einer neuen Parteispitze. Es treten an: der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck, die frühere brandenburgische Landeschefin Annalena Baerbock und Anja Piel, Fraktionschefin im niedersächsischen Landtag. Mit ihr sprach Birgit Marschall.

Warum haben Sie Ihren Hut in den Ring geworfen?

Anja Piel: Ich möchte dazu beitragen, dass wir die Themen Klimaschutz, Energiepolitik und soziale Gerechtigkeit stärker verknüpfen. Wir müssen bedenken, dass etwa der Kohleausstieg Jobverluste bedeuten wird und wir sozialverträgliche Angebote für die betroffenen Arbeitnehmer machen müssen. Auch die Digitalisierung wird für viele im Arbeitsleben soziale Härten mit sich bringen. Wir müssen dafür sorgen, dass gute Arbeit für alle trotz Digitalisierung möglich bleibt.

Aber das sagt doch nahezu wortgleich auch die SPD...

Piel: Der SPD fehlt es aber an der progressiven Kraft, Ökologie und Sozialpolitik zusammen zu denken. Wir haben bei den Jamaika-Verhandlungen klar gesagt, dass wir beim Kohleausstieg Geld für den sozialverträglichen Arbeitsplatzumbau brauchen. Nun stellen wir fest, dass die Groko-Sondierer den Kohleausstieg und den Klimaschutz nur zaghaft und oberflächlich ins Auge gefasst haben.

Sie meinen, mit Robert Habeck und Annalena Baerbock an der Parteispitze käme das Soziale zu kurz?

Piel: Annalena und Robert sind alle beide sehr gut in der Klima- und Umweltpolitik. Ich finde, es wäre ein charmantes Angebot an die Partei, Klima- und Umweltpolitik mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu kombinieren, für die ich stehe.

Würden Sie im zweiten Wahlgang auch gegen Habeck antreten?

Piel: Ich gehe davon aus, dass die Partei über eine kluge Satzungsänderung Robert Habeck die Kandidatur ermöglichen wird. Annalena Baerbock und ich werden nur dann ein gemeinsames Personalangebot machen, wenn die Satzungsfrage nicht gelöst wird.

Habeck will noch für eine Übergangszeit Minister bleiben. Welche Übergangszeit präferieren Sie?

Piel: Der Übergang müsste für Robert Habeck in sechs Monaten zu schaffen sein. Vielleicht wird man die sechs Monate noch um ein paar Wochen verlängern, dann wären wir bei maximal acht Monaten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Grüne uns wegen dieser Satzungsfrage zerlegen.

Wären Sie für einen höheren Spitzensteuersatz?

Piel: Wenn wir über Umverteilung reden, müssen wir erst einmal sagen, wofür wir mehr Geld brauchen. Wir haben ein unterfinanziertes Bildungssystem. Und wir müssen bei den Renten Lücken schließen, insbesondere bei Frauen, die durch gebrochene Erwerbsbiografien zu wenig Rente bekommen. Um dafür mehr Geld zu haben, können wir über einen höheren Spitzensteuersatz reden – oder über die Vermögensteuer oder über eine höhere Erbschaftsteuer.

Würden die Grünen im Bundestag Schritte der großen Koalition unterstützen, die auch dem Grünen-Programm entsprechen, etwa Schritte hin zur Bürgerversicherung?

Piel: Wir werden sicher Schritte der großen Koalition, die die Gesundheitsversorgung gerechter machen, im Bundestag mittragen. Dazu könnte gehören, dass die Arzthonorare für privat und gesetzlich Krankenversicherte einander angeglichen werden. Oder dass die paritätische Krankenkassenfinanzierung wieder eingeführt wird.

Die Grünen leiten jetzt eine programmatische Erneuerung ein. Was soll die Grünen in vier Jahren von den heutigen Grünen unterscheiden?

Piel: Die Erneuerung besteht darin, Ökologie mit Sozialpolitik zu verknüpfen. Wir müssen in der Lage sein, Gerechtigkeitslücken zu schließen, die sich im ökologischen Aufbruch für viele ergeben können.

Sollen die Grünen Teil der nächsten Bundesregierung 2021 sein?

Piel: Ich wünsche mir, dass wir 2021 drittstärkste Kraft werden. Bestenfalls regieren wir dann in einem Zweierbündnis, realistischerweise aber eher in einem Dreierbündnis.

Jamaika oder Rot-Rot-Grün?

Piel: Ich habe bisher in rot-grünen Zusammenhängen gute Regierungserfahrung gemacht. Ich kann mir auch im Bund eine Minderheitsregierung mit Tolerierung vorstellen.

Wie meinen Sie das genau?

Piel: Ich stelle mir eine Minderheitsregierung spannend vor. Das stärkt die parlamentarische Demokratie. Es wäre spannend zu erfahren, wie man mit unterschiedlichen Mehrheiten Lösungen erarbeitet.

Vielleicht wird daraus ja noch was, wenn die große Koalition scheitert.

Piel: Grüne stehen grundsätzlich auch für eine Tolerierung einer Minderheitsregierung zur Verfügung, wenn die große Koalition wider Erwarten nicht zustande kommt. Das, finde ich, ist eine spannende Idee.

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