Zum Tod von Hans-Dietrich Genscher „Als Co-Pilot habe ich mich nie gefühlt“

Bonn · Hans-Dietrich Genscher wollte seine Ziele erreichen – und dafür gemocht werden. Ohne dass ihn das konfliktscheu gemacht hätte. Nicht in seiner Partei, nicht in den Bundesregierungen, denen er 23 Jahre angehörte, nicht im Dialog mit den Großen dieser Welt.

Wenn der Akteur Genscher einmal die Augen schließt, wird so viel da sein, da kann unendlich viel geschrieben werden.“ Wie recht er hat, dieser Hans-Dietrich Genscher! Erst zehn Tage ist es her, dass er seinen 89. Geburtstag begehen konnte. Da schon ans Bett gefesselt, was er alle Welt wissen ließ, weil er wusste, heute an der Beerdigung von Guido Westerwelle nicht teilnehmen zu können. Jetzt ist er – in der Nacht zu Freitag – in seinem Haus in Pech gestorben.

Wo also anfangen, wo aufhören? Vielleicht in der Luft, in der sich Genscher so oft – und gar nicht so gerne aufhielt. Die Rede soll nicht sein von dem uralten Witz („Treffen sich zwei Flugzeuge. Im einen sitzt Genscher ... im anderen auch“), sondern von seiner Flugangst und seiner so typischen Art, damit fertig zu werden. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, beruhigte er seine Mitarbeiter, wenn es mal wieder ruckelte und zuckelte über den Wolken. Und ernsthaft, aber genauso doppeldeutig gab er zu Protokoll: „Ich bleibe gerne auf dem Boden.“ Oder: „Die Landung finde ich schöner als den Start.“

Genscher wollte immer ankommen. Auch das in des Wortes doppelter Bedeutung. Er wollte seine Ziele erreichen – und dafür gemocht werden. Ohne dass ihn das konfliktscheu gemacht hätte. Nicht in seiner Partei, nicht in den Bundesregierungen, denen er 23 Jahre angehörte, nicht im Dialog mit den Großen dieser Welt, die er in den 18 Jahren als Chef des Auswärtigen Amtes traf.

In die Wiege gelegt war ihm das nicht. Am 21. März 1927 in Reideburg geboren, heute ein Stadtteil von Halle, muss er noch in den Kriegsdienst und erkrankt direkt nach dem Krieg lebensgefährlich an Tuberkulose. Dem Chefarzt, der ihn damals behandelte (und rettete) bleibt er lebenslang dankbar: „Er hat mir einen Leitfaden fürs Leben gegeben.“ Denn: „Meine schwächste Zeit machte mich stark.“ Er verbringt insgesamt drei Jahre in Krankenhäusern und Lungenheilstätten, kämpft sich dennoch und zwischendurch durchs Jurastudium, zieht Anfang der 50er Jahre mit seiner Mutter – der Vater starb früh – nach Westen, lässt sich in Bremen als Anwalt nieder.

Eintritt in die FDP 1952. Bereits vier Jahre später holt ihn Thomas Dehler als Assistent in die FDP-Bundestagsfraktion, später wird er ihr Geschäftsführer, 1965 Bundestagsabgeordneter (was er bis 1998 bleiben wird.) Als Willy Brandt und Walter Scheel nach der Bundestagswahl 1969 der verdutzten Union die sozialliberale Koalition vorsetzen, ist Genscher dabei. Er wird Innenminister. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Risiko eins: das Olympia-Attentat 1972 in München. Palästinenser nehmen Israeli als Geiseln, Genscher bietet sich – so weit kommt es jedoch nicht – als Austauschgeisel an, ohne seine Familie zu fragen: „Man muss eine solche Entscheidung allein treffen. Man darf sie nicht abwälzen auf die Familie.“ Die Geiselbefreiung misslingt, Genscher bietet seinen Rücktritt an und bleibt. Zwei Jahre später die nächste Krise mit Nebenwirkungen: Willy Brandts Referent Günter Guillaume wird als DDR-Spion enttarnt. Genscher, als Innenminister auch oberster Dienstherr des Verfassungsschutzes, bleibt wiederum, beerbt sogar Walter Scheel im Auswärtigen Amt und im Amt des FDP-Parteivorsitzenden und ist Vizekanzler. Das Amt des deutschen Chefdiplomaten ist nicht per se sein Metier, nicht nur wegen anfänglicher Sprachbarrieren. Dennoch sagt er später über die folgenden 18 Jahre: „Als Co-Pilot habe ich mich nie gefühlt.“ Weder unter oder neben Helmut Schmidt, noch unter oder neben Helmut Kohl.

Hans-Dietrich Genschers Wirken in BonnEs beginnt die Zeit, die ihm später das Prädikat „Schlitzohr“ einbringt. Die Zeit, in der er seine als Fraktionsgeschäftsführer und Parteimann erfolgreiche Taktik auf die Außenpolitik überträgt. Eine Wortwahl, die ihm selbst missfällt: „Stratege wäre mir lieber. Ich habe es ja nicht darauf angelegt, jemanden zu überlisten.“ Genscher macht daraus seine Diplomatenphilosophie: „Es geht darum sich in die Schuhe des anderen zu stellen, ihn zu gewinnen, aber nicht zu besiegen.“Oder wie er später einmal sagt: „Zu einem immer neuen Gespräch gibt es keine Alternative.“ Dabei entsteht das, was man später Genscherismus nennen wird: die Kunst des Dehn- und Deutbaren, die Kunst, mit Nuancen Fortschritte zu erzielen, die Kunst der vier Buchstaben: KSZE zunächst, später OSZE. Konferenz über und Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. „Der mit den Ohren“ hat sie überall und nimmt kleinste Veränderungen auf. Und seine Presseleute wissen, was ihr Job ist: Sie tragen die Nuancen weiter ans Bonner Pressekorps. Jede einzelne. Genscher kann da sehr genau sein. Übrigens auch als FDP-Chef. Auch da hat er die Ohren überall. Und auch die Augen. Wehe im Wahlkreis ist eine Straße, durch die der Konvoi fährt, nicht ausreichend plakatiert...

Der Mann, der sich nicht als Co-Pilot fühlt, hat auch außenpolitisch Grund dazu. Wenn sich Helmut Schmidt und US-Präsident Jimmy Carter mal wieder verhaken (beide waren sich gar nicht grün), muss „Genschman“ ran, so wie später, um Helmut Kohls Vergleich von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels mit Michail Gorbatschow auszubügeln.

Doch vor der deutsch-deutschen und der europäischen Wende steht die bundesrepublikanische. Genscher realisiert von Monat zu Monat mehr, wie sehr die Bereitschaft der SPD schwindet, Schmidts Nachrüstungskurs zu unterstützen, eine Nachrüstung, die Genscher ohne Wenn und Aber für notwendig hält: „Festigkeit, wenn es darauf ankommt,“ nennt er das. Innenpolitisch wird das hochriskante Wendemanöver, das Genscher viele Freundschaften kostet, von wirtschaftsliberalen Thesen des Grafen Lambsdorff flankiert: Im Herbst 1982 ist die sozialliberale Koalition Geschichte, Genscher knapp zwei Wochen ohne Regierungsamt, bis er sich im christliberalen Bündnis mit Helmut Kohl wiederfindet. Parteipolitisch erholt sich Genscher von dieser Wende nicht und gibt drei Jahre später deshalb den Vorsitz ab.

Natürlich bleibt er die graue Eminenz der Partei. Mehr als drei Jahrzehnte. Wer wissen will, wohin es gehen sollte, der fragt Genscher. Und der antwortet – meist vertraulich. So kommt Jürgen Möllemann zu seinem Höhenflug, so wird Guido Westerwelle, was er war.

Im Außenamt macht Genscher da weiter, wo er unter Schmidt aufgehört hat. Dialog, vertrauensbildende Maßnahmen – mehr, nicht weniger Europa. „Wetthelfen ist besser als Wettrüsten“, sagt er später. 1986 trifft er zum ersten mal auf Michail Gorbatschow und notiert: „Wenn dieser Mann das tut, was er sagt, dann öffnet das den direkten Weg zur deutschen Einheit.“ Gorbatschow tut es, unterstützt von seinem Außenminister Eduard Schewardnadse, der darüber zu einem gern gesehenen Gast im Haus der Genschers am Kottenforst wird.

Das Leben von Hans-Dietrich GenscherGenscher reibt sich auf für die plötzlich möglich scheinende deutsche Einheit. Unvergessen seine Botschaft an die nach Prag geflüchteten DDR-Bürger vom Balkon der Botschaft: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht Ihre Ausreise...“ Der da oben auf dem Balkon steht, ist in höchster Lebensgefahr. Hat gerade einen (weiteren) Herzinfarkt erlitten. Genscher macht weiter, schafft wenig später den 2+4-Vertrag, der die deutsche Einheit endgültig möglich macht. „Ich habe erlebt, dass in bestimmten Situationen dem Menschen Kräfte zuwachsen, wie er das nicht für möglich gehalten hätte.“ Zwei Jahre später macht er Schluss als Außenminister und mit der aktiven Politik. Das Warum kleidet er – natürlich in einen Scherz: „Ötzi wird gefunden und aufgetaut. Seine erste Frage: Ist der Genscher noch Außenminister? Da hab ich meiner Frau gesagt: Es ist soweit.“

Seiner Frau Barbara, die ihm daheim in Pech den Rücken freihält und vergeblich versucht, ihn zum Wandern zu bringen: „Das hat keine Zweck. Wenn ich ihn dazu bekomme, geht er sehr schnell – damit er es hinter sich hat.“ Genscher bleibt lieber im Sessel zu Hause umgeben von Tausenden von Büchern und Karikaturen, vor allem aber nahe am Telefon und immer zu einem Scherz aufgelegt, über den er selbst am meisten lacht. Zum Beispiel den: „Fragt Eva Adam: Liebst Du mich? Antwortet der: Wen denn sonst?“

So war er, der Mann mit dem gelben Pullover.

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