Negativemissionen Wie geht die Klimarettung in Europa weiter?

Bonn · Eine Studie des Wissenschaftsrates der EU legt nahe, sich Klimaschutz ab sofort ganz anders vorzustellen als bisher. Treibhausgasemissionen einzusparen bleibt wichtig, doch das Zwei-Grad-Ziel lässt sich damit nicht erreichen.

Diesel-Fahrzeuge machen krank. Zu viel Feinstaub, zu viele Stickoxide, aus denen wiederum über komplexe Reaktionsketten Feinstaub entstehen kann. Die Medien berichten darüber und zitieren Experten landauf, landab, die dies oder jenes meinen. Darunter auch dieser Befund: Diesel sind weniger klimaschädlich als Benziner, mit einem Dieselverbot gefährde Deutschland erst recht seine Klimaschutzziele. Viele Meinungen und Fakten, die sich nicht nach „gut“ und „böse“ sortieren lassen, aber das Laienpublikum, das es gerne einfach und übersichtlich hätte, achselzuckend abschalten lässt.

Beim Klimaschutz ist es (noch) weitaus komplizierter als beim Diesel, auch für die Medien. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, schrieb einmal der Systemtheoretiker und Soziologe Niklas Luhmann. Danach existiert für die Menschen etwas nicht, wenn nicht berichtet wird, oder ist für sie vergleichsweise unbedeutend, wenn der Nachrichtenfluss zu einem Thema als Rinnsal daherkommt.

Nun lässt sich bei der globalen Erwärmung und der Rolle des Menschen in ihr kaum feststellen, dass Energiewende, Wetterextreme und Klimawandel medial ein Mauerblümchendasein fristen. Trotzdem erscheint die menschengemachte globale Erwärmung der Mehrheit bloß als etwas, was halt manche Tage und Nächte etwas wärmer macht als üblich und gelegentlich via Wetter-extreme Einzelschicksale produziert, etwa weggeflutete Dörfer.

Spätestens seit dem umjubelten 21. UN-Klimagipfel in Paris herrscht zudem große Zuversicht, dass nun – wirklich und bald – alles getan wird, damit der Planet sich nicht um mehr als zwei Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit aufheizt. Die Menschen glauben oder sollen glauben: Mehr LEDs statt Glühbirnen, weniger Fleischkonsum, mehr Elektromobile, weniger Flugreisen, mehr Wärmedämmung und weniger Braunkohle-Kraftwerke – alles zusammen wird es schon richten.

Ein kleines, wichtiges Detail ist auf der Strecke geblieben

Es hat seit Paris manchen Zwischenruf von Wissenschaftlern gegeben, etwa von US-Klimaforschern („Begrabt das Zwei-Grad-Ziel!“). Doch der Weg von Fachzeitschriften bis in die Massenmedien ist weit und eher vom Zufall gesteuert. Zunehmend mahnen nun nicht Klimaforscher (ja gerne des Alarmismus bezichtigt), sondern Politikwissenschaftler, dass nicht nur die Medien, die über den „Aufbruch von Paris“ berichteten, sondern auch die Regierungen ihren Wählern ein kleines, aber wichtiges Detail verschwiegen haben: Das Zwei-Grad-Ziel sei nur noch mit „negativen Emissionen“ zu erreichen.

Selbst wenn in 20 Jahren die große Transformation, eine kohlenstofffreie Weltwirtschaft ohne Kohlendioxid-Emissionen, umgesetzt wäre: Es würde nicht reichen. Es bräuchte trotzdem Technologien, die aktiv das Zuviel an Gasmüll aus der Lufthülle entfernen, erst recht dann, wenn das 1,5-Grad-Ziel umgesetzt werden soll, damit die pazifischen Inselreiche nicht untergehen.

Das ist eine erstaunliche Botschaft aus dem Kleingedruckten. Darin steht, dass in 344 von 400 computersimulierten Szenarien des UN-Weltklimarats (IPCC), der die Weltpolitik berät, das Zwei-Grad-Ziel nur zu erreichen ist, wenn der Mensch wie ein Chirurg am Planeten Hand anlegt – und „die Klimaverhandler wissen, dass ihre Ziele anders nicht zu erreichen sind“, schrieb Oliver Geden, Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zum Auftakt des 23. UN-Klimagipfels in Bonn im General-Anzeiger. Einer von vielen Weckrufen.

Doch wohin mit dem Kohlen-dioxid? Was verbirgt sich überhaupt hinter dem sperrigen Begriff „Negativemission“, der fast nie in Überschriften zum Klimawandel auftaucht? Vereinfacht: Das CO2 soll zurück in die Tiefen der Erdkruste, von wo ja auch die Ausgangsstoffe (Öl, Kohle) stammen. Nur auf welchem Weg ist umstritten, ebenso die Risikobewertung.

„Bei negativen Emissionen handelt es sich um eine hoch riskante Wette auf die Zukunft“, sagt die Politikwissenschaftlerin Silke Beck vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, „der zufolge sich mithilfe bestimmter Technologien das Emissionsbudget – ähnlich wie bei einem Bankkredit – zunächst kurzfristig überziehen und dann im Laufe des 21. Jahrhunderts wieder ausgleichen lässt.“ Professor Kevin Anderson, Klimaforscher an der Universität Manchester, spricht über NETs (siehe Glossar) gar von „Wolkenkuckucksheimen“.

Nun hat der European Academies Science Advisory Council (EASAC), ein seit 2001 bestehender Zusammenschluss nationaler Wissenschaftsakademien der 28 EU-Mitgliedsstaaten, das große Schweigen auf der offziellen Tagesbühne der Klimawandel-News gebrochen. Der EASAC-Report wird den nationalen Regierungen nicht gefallen, denn er legt den Finger in die Wunde: Ohne negative Emissionen scheitert das Zwei-Grad-Ziel. Der IPCC geht dazu von bis zu 800 Gigatonnen Kohlendioxid (CO2) aus, die aus der Erdatmosphäre entfernt werden müssen, was in etwa der 20-fachen Menge der aktuellen Weltemission pro Jahr entspricht. Kein Pappenstiel also.

Schlimmer noch: Die Technologien für negative Emissionen (NETs), so der EASAC, würden möglicherweise zu optimistisch in die IPCC-Szenarien eingerechnet, zudem seien sie meilenweit von einer Erprobung, geschweige der Serienreife entfernt. Gegenwärtig habe keine Technik „das realistische Potenzial, CO2 im Gigatonnen-Maßstab aus der Lufthülle zu holen“.

Die vage Hoffnung auf Technologiesprünge

Politiker, die gerade an ihren nationalen Klimazielen herumschrauben und sie dann doch nicht erreichen, sprechen vor Mikrofonen die Reizvokabel „Negativemission“ nicht aus. So kann sich auch keine gesellschaftliche Debatte über eine brisante Frage entwickeln – eine Diskussion, die die EASAC-Autoren ebenfalls anmahnen und die vermutlich kontrovers und hitzig verlaufen wird. Schon die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle oder Standorte für neue Strommasten für die Energiewende haben der Politik offenbart, mit was zu rechnen ist, wenn es ernst wird.

In der Mitte der Gesellschaft, in Wahlkämpfen heiß umworben, entstehen wie aus dem Nichts hartnäckige Widerstandsnester, wenn neue Strommasten (für die Energiewende) errichtet oder angehäufter Atommüll unter der Erdkruste verbannt werden sollen – und die Pläne Betroffene produzieren, die ihre Rechte im Rechtsstaat kennen.

Die Schlussrechnung für den jahrzehntelangen und sorglosen Stromkonsum aus der Steckdose oder die vielen Autofahrten, die Entsorgung von Atom- oder Gasmüll, hat niemand auf der Rechnung und will keiner zahlen. Das ist nicht nur in Deutschland so. Die Notwendigkeit eines Endlagers wird akzeptiert – aber nicht in der Nachbarschaft, egal wie hoch die Gunst der Geo-logie ausfällt. Weltweit spricht man vom NIMBY-Problem: Not in My Backyard („Nicht in meinem Hinterhof“).

Ob der eines Tages im Untergrund zu entsorgende Gasmüll in der Öffentlichkeit weniger brisant wirkt oder ebenso irrationale Ängste wie vor der Radioaktivität provoziert, ist ungewiss. Kohlendioxid ist immerhin ungiftig und führt nur hochkonzentriert zur Erstickung. Es geht also, wie beim Atommüll, um geologische Sicherheit, auch um Kosten.

Warum die Politik das Thema nicht öffentlich offensiv angeht und keine demokratische Debatte anstößt, kann gute Gründe haben: Sie könnte das ohnehin zähe Klimaschutz-Geschäft, Treibhausgas-Emissionen einzusparen, nicht abbremsen wollen; sie könnte Menschen, Industrien und deren lästigen Lobbyisten keinen Vorwand liefern wollen, noch stärker als bisher auf dem alten Energiesystem zu beharren. Das alles wäre nachvollziehbar, ständen die Techniken abrufbar zur Verfügung. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das Ass hat niemand im Ärmel. Die Instrumente zur CO2-Entfernung müssen erst noch entwickelt, erprobt und vor allem mit Milliarden Forschungsgeldern bis zur Serienreife gefördert werden.

Auch das hat gesellschaftliche Relevanz. Wobei Ideen dazu bereits zuhauf existieren. Aber eine staatlich organisierte Großforschungs-offensive dazu? Fehlanzeige. So bleibt der Verdacht, dass die Politik weiter in Legislaturperioden taktet und ansonsten vage auf künftige Technologiesprünge setzt. Salopp formuliert: Wir machen erst einmal eine Zeitlang weiter wie bisher, und am Ende erreichen wir das Zwei-Grad-Ziel trotzdem, weil die näch-ste Generation eine zündende Idee hat, um die Sünden von 200 Jahren Fossilwirtschaft zu beseitigen.

Idee: Millionen Bäume als Gasmüll-Entsorger

Das Hauptproblem aller Ideen zur Erzeugung negativer Emissionen liegt im Reich der gesellschaftlichen und ökologischen Neben- und Wechselwirkungen. Da wäre etwa die Idee „BECCS“ (siehe Glossar), die auf den ersten Blick durch maximale ökologische Verträglichkeit überzeugt, denn sie imitiert nur die Natur, die Photosynthese. Zunächst braucht es eine Anbaufläche von der Größe Indiens zum Pflanzen schnell wachsender Bäume (CO2-Verbraucher). Das spätere Holz wird in Kraftwerken zur Energieerzeugung verbrannt und das dabei entstehende CO2 sofort abgeschieden und unterirdisch gespeichert.

Klappt das, wäre der Atmosphäre aktiv CO2 (ohne Wiederkehr) entzogen worden und eine Negativemission entstanden. Doch wie bei der einst mit politischem Tunnelblick forcierten Biosprit-Offensive könnte das BECCS-Verfahren auch schnell scheitern – etwa daran, dass in einer Welt, die bald neun Milliarden Menschen ernähren muss, keine Fläche von der Größe Indiens verfügbar wäre.

Oder dass eine Waldfläche von kontinentalem Ausmaß eine dunkle Fläche und damit strahlungsphysikalisch fatal wäre, weil das die globale Erwärmung puschen würde – ein Effekt, der bereits heute in der Arktis, wo sich helle Meereis- in dunkle Ozeanflächen verwandeln, zu beobachten ist. Die Arktis heizt sich deshalb zwei- bis dreimal so schnell auf wie der Rest der Welt. Ganz zu schweigen davon, dass weltweit erst eine BECCS-Pilotanlage existiert, und davon, dass die Risikoforschung für die CO2-Speicherung erst begonnen hat.

Der politische Tunnelblick, meist zur Lösung eines Problems geschärft, ist ohnehin riskant, weil er die Rundum-Sicht einschränkt. So schafft eine Ein-Problem-Lösung meist neue Probleme. Ein Beispiel dafür ist ausgerechnet die Ursache für die Energiewende: der spontane Atomausstieg Deutschlands nach dem Fukushima-GAU in Japan 2011. Die Reaktion auf die Nuklearkatastrophe in einem Hochtechnologie-Land fand viel Beifall, war aber eine Entscheidung zwischen Cholera und Pest – zwischen Atom- und Gasmüll.

So entstand das „Energiewendeparadox“: eine Energiewende ohne Emissionswende. Verkleinert man den einen Abfallberg, vergrößert sich zumindest vorübergehend der andere. Das Klimaschutzziel wackelte recht früh, als die Energiewende durch Bürgerproteste gegen Strommasten ins Stocken geriet. Nun sollen Erdkabel den Windstrom aus dem Norden Richtung Süden leiten. Das macht die Wende teurer und langwieriger.

Insofern könnte es sich lohnen, wie EASAC empfiehlt, die gesellschaftliche Debatte über die CO2-Speicherung bald zu beginnen. Wie zäh die Konsenssuche verlaufen kann, zeigt die Atomendlager-Suche. Bis heute gibt es keines.

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