Agenda 2010 Wie Putzfrau Susi die SPD aufmischt

Bonn · Es brauchte eine Reinigungskraft aus Gelsenkirchen, um den Sozialdemokraten die Folgen ihrer Agenda 2010 zu erklären. Jetzt hofft Susanne Neumann, dass sie ihre Chance nicht verbocken.

 Eine reinigende Kraft: Susanne Neumann hat mit deutlichen Worten die SPD für die Folgen der Agenda 2010 kritisiert - lange bevor Martin Schulz das Thema für sich entdeckte.

Eine reinigende Kraft: Susanne Neumann hat mit deutlichen Worten die SPD für die Folgen der Agenda 2010 kritisiert - lange bevor Martin Schulz das Thema für sich entdeckte.

Foto: dpa

Gelsenkirchen, acht Wochen vor der Landtagswahl: Die Frühlingssonne leuchtet die Schlusslichtstadt des Westens aus, hell, mild, und dabei brutal ehrlich. Es ist Susanne Neumanns Revier, über 30 Jahre hat sie in der Stadt malocht, morgens als Putzfrau, mittags als Hausmeisterin auf 450-Euro-Basis. Was die verflossene Kernwählerschaft der SPD, nämlich die Arbeiter, bewegt, weiß sie nur zu gut. Ein bisschen Sonnenschein hinter den Betonbunkern des sozialen Wohnungsbaus blendet sie deshalb genauso wenig wie der "Schulz-Effekt", jenes aktuelle Umfragehoch bei den Sozialdemokraten. "Es heißt, unserem Land geht es gut, dass die Wirtschaft brummt", sagt sie, "aber wir haben 1,2 Millionen Aufstocker und eine Million Leiharbeiter in Deutschland, die Armenküchen sind gut besucht. Wie gut geht es Deutschland also wirklich?"

Vor einem Jahr geriet Susi, wie sie für viele heißt, ins Rampenlicht - und ist seitdem Rettung und Alptraum der SPD in einer Person. Mit gönnerhafter Geste hatte die Partei sie auf die Bühne der "Gerechtigkeitskonferenz 2016" geholt, wo sie mit Parteichef Sigmar Gabriel parlieren sollte. Vielleicht war es nett gemeint; vielleicht wollten die Sozialdemokraten sich aber auch nur aus Wahlkalkül mit Arbeiterstaub schmücken. Wenn es nämlich eine Stimme der Basis gibt, dann ist es Susis. Das Ganze ging spektakulär nach hinten los: Gabriel eierte rum, Susanne Neumann teilte aus - gegen die von der SPD verabschiedeten Gesetze zur Leiharbeit, gegen den Vertrauensbruch zur Arbeiterschaft. Am Ende war der Parteichef düpiert - und Klartext-Susi aus dem Ruhrgebiet ein Star.

Tausende Menschen haben ihr seit dem Auftritt geschrieben, befristet oder prekär beschäftigt, erleichtert, dass endlich jemand ausspricht, was sie sich nicht zu sagen trauen. "Ich hab' erst gar nicht verstanden, was da passierte", sagt sie, "ich hab' doch nur das gesagt, was ich schon seit Jahren erzähle."

Heute ist klar: Susanne Neumann hat das Versagen der Agenda 2010 laut und authentisch protokolliert, ein Tabuthema der SPD ans Licht gezerrt. Sie ist das schlechte Gewissen der SPD und hat mit ihrer Ansprache den Nerv der Zeit in ihrem Milieu getroffen. Dutzende Talkshow-Auftritte, ein Buchvertrag - die überwältigende, positive Resonanzwelle auf Susis Ansichten konnte der Parteispitze nicht verborgen bleiben. Jetzt zieht Kanzlerkandidat Martin Schulz mit dem Versprechen, die Agenda 2010 umzubauen, in den Wahlkampf. "Da muss aber die ganze Partei hinter stehen, und das sehe ich im Moment nicht", bleibt Neumann skeptisch.

Eintritt in die SPD

Sie ist mittlerweile selbst in die SPD eingetreten - "aber nicht wegen Hannelore Kraft" -, und hat gelernt, wie viele in der Partei die Agenda 2010 von Ex-SPD-Kanzler Gerhard Schröder immer noch für die Rettung der deutschen Wirtschaft halten. Da widerspricht Susi leidenschaftlich: "Es war ein Mittel, um das Land zum Niedriglohnsektor zu machen."

An sich und den "Mädels" im Putzgewerbe hat sie die Konsequenzen deutlich gemerkt. "Fast jede Gebäudereinigungsfirma hat eine Leiharbeitsfirma gegründet, wo 60 von 100 Jobs befristet sind. Wer befristet ist, hat kaum Kündigungsschutz." Der Mindestlohn wird gezahlt und umgangen: "Es werden 20 Stunden bezahlt, aber die Arbeit ist nur in 30 Stunden zu schaffen. Niemand beklagt sich über die unbezahlten Überstunden, weil alle Angst haben." Die größten Missstände findet Susanne Neumann in kommunalen und kirchlichen Einrichtungen. "Da muss eine Krankenhausetage in einer Stunde gereinigt sein", sagt sie, "auf den Knochen der Untersten wird gespart." Putzkräfte bedienen oft drei Jobs am Tag, um über die Runden zu kommen. Was man so "über die Runden kommen" nennt ... Hätte Susi ihren Ehemann nicht, würde sie nach 36 Arbeitsjahren - sie bezieht wegen einer Krebserkrankung mittlerweile Erwerbsminderungsrente von 800 Euro - in die Altersarmut fallen. "Ich fühle mich um meine Lebensleistung regelrecht betrogen", sagt sie, "das hat mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun."

"Sonst ist die Partei weg vom Fenster"

Susi ist nicht allein. Sie fasst das Lebensgefühl der Angst im Arbeitermilieu zusammen - Angst, dass Kunden abspringen, Angst vor Hartz IV, dass auch nur die Waschmaschine kaputtgeht. "Viele sagen: 'Die SPD tut nix, die CDU sowieso nicht, ich wähl' die AfD'. Selbst türkische Kolleginnen sind so drauf", weiß Neumann. Im Ruhrgebiet, Herzkammer der Sozialdemokratie, kommt die AfD in Umfragen auf zweistellige Ergebnisse. Die Landtagswahl in NRW, dem größten Bundesland, gilt als Vorentscheidung für den Bund.

Dass Martin Schulz es ernst meint mit mehr sozialer Gerechtigkeit, das nimmt sie ihm durchaus ab. Bei den Erfolgschancen bleibt sie skeptisch: "Er muss in der Partei bei der Agenda 2010 viele dicke Bretter bohren, bis er ein standfestes Regal hat." Susi will die Abkehr von der Agenda, die Abschaffung von befristeten Verträgen ohne Sachgrund, das Ende der Leiharbeit und am liebsten eine Rückkehr zum früheren Arbeitslosengeld. "Mindestens müssten Leiharbeiter den gleichen Lohn wie Angestellte bekommen", sagt sie. In weiten Teilen klang Schulz auf dem Parteitag am Sonntag so wie Susi Neumann. Selbst die "sachgrundlosen Befristungen", mit der sich nach ihren Erfahrungen kaum ein Politiker auskennt, war Thema. Doch Grund für Bauchgrummeln bleibt. Noble Ideen sind das eine, konkrete Pläne etwas anderes. "Die SPD hat jetzt eine letzte, große Chance, aber die muss sie auch umsetzen", sagt Susi - "sonst ist die Partei weg vom Fenster."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Nicht alles gut
Kommentar zum Wechsel im Amt des Datenschutzbeauftragten Nicht alles gut
Aus dem Ressort