Kommentar zur deutsch-türkischen Freundschaft Untrennbar?

Meinung | Bonn · 25 Jahre nach dem ausländerfeindlichen Anschlag von Solingen mischt sich in die anhaltende Trauer um die Toten und in die Sorge vor wieder zunehmendem Fremdenhass die Erschütterung darüber, wie brüchig die deutsch-türkische Freundschaft ist, kommentiert Raimund Neuß.

Es war eine nahezu verwegene Hoffnung: „Grenzenlose Trauer führt uns heute untrennbar zusammen.“ So begann Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor bald 25 Jahren seine Kölner Trauerrede für die fünf Mordopfer von Solingen.

Inmitten von deutschen und türkischen Fähnchen, von Blumen und Freundschaftslogos sah es so aus, als ob diese Hoffnung sich erfüllen werde. Im gemeinsamen Entsetzen über den schwersten ausländerfeindlichen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik entdeckten Deutsche und Türken, dass sie ohne Rücksicht auf Herkunft und Pass „mit einem Wort: Mitmenschen“ waren, wie Weizsäcker sagte. Entscheidenden Anteil daran hatte Mevlüde Genç, die Frau, die in Solingen zwei Kinder, zwei Enkel und eine Nichte verloren hatte.

Die Muslimin Genç zeigte eine Kraft der Liebe und Versöhnung, angesichts derer mancher Anwalt des christlichen Abendlandes ganz still sein sollte.

25 Jahre danach mischt sich in die anhaltende Trauer um die Toten von Solingen und in die Sorge vor wieder zunehmendem Fremdenhass die Erschütterung darüber, wie brüchig die deutsch-türkische Freundschaft ist. Keineswegs scheinen Menschen da „untrennbar“ zusammengeführt worden zu sein. Das Erscheinen eines türkischen Ministers zum 25. Jahrestag des Anschlags löst Sorgen vor verdeckter Wahlpropaganda aus.

Handlangerin eines Unrechtsstaates

Die Ditib, auf deren Kölner Moscheegelände Weizsäcker sprach, erweist sich als Handlangerin eines Unrechtsstaates. Die doppelte Staatsbürgerschaft, für die Weizsäcker warb, hat manchen Inhaber in die Fallen der türkischen Justiz geraten lassen – und der heutige starke Mann in Ankara kündigt den Missbrauch dieser Möglichkeit an, will, dass seine Anhänger sich hier einbürgern lassen und unseren Staat unter Druck setzen. Selbst deutsche Nationalkicker fallen auf den Anspruch herein, dass Recep Tayyip Erdogan ihr Präsident sei.

Volkstumspolitik nach dem Muster der 1920er und 1930er Jahre ist das, aggressiv nach außen und nach innen gegen alle türkischen Bürger gerichtet, die sich nicht als Nationalisten und orthodoxe Sunniten bekennen. Ja, die Konflikte der Türken in und mit Deutschland leiten sich aus einem Kampf her, den Erdogan gegen große Teile seines eigenen Staatsvolkes führt. Gegen Oppositionelle, gegen religiöse Minderheiten und Agnostiker, gegen Kurden und Armenier.

Damit nutzt und vertieft Erdogan traditionelle Spaltungen in der türkischen Gesellschaft. Kurden waren auch vor 25 Jahren Bürger zweiter Klasse, die Ditib war auch damals ein Instrument des Staates und kein liebenswerter Gebetskreis. Jede Eskalation im deutsch-türkischen Verhältnis hilft Erdogan bei seiner Spalterstrategie. Dies sollten wir bei aller Notwendigkeit, Menschenrechtsverletzungen offen anzusprechen, berücksichtigen.

Bleiben wir gelassen: Auch Erdogans Glanz vergeht. Umfragen in der Türkei geben da einen klaren Hinweis.

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