Interview mit Grünen-Spitzenkandidat "Tiere müssen anständig behandelt werden"

Bonn · Sven Giegold, Grünen-Spitzenkandidat für die Europawahl, spricht im GA-Interview über eine neue Agrar- und Klimapolitik für die EU sowie die wirtschaftliche Situation in Europa.

 Für Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold ist die Europawahl eine Richtungswahl.

Für Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold ist die Europawahl eine Richtungswahl.

Foto: picture alliance/dpa

Ist die Wahl am 26. Mai die große Schicksalswahl für Europa?

Sven Giegold: Den Begriff finde ich überzogen. Was sagt man dann, wenn man beispielsweise vor einer fundamentalen Frage wie Krieg und Frieden steht?

Eine Richtungswahl?

Giegold: Eine Richtungswahl ist es angesichts des Brexits und des Erstarkens der Populisten auf jeden Fall. Der Kontinent wird mit dieser Wahl die Entscheidung treffen, ob Europa weiter zusammenwächst und wir gemeinsam stark werden oder ob man den Populisten nachgibt.

Was ist denn so problematisch, wenn populistische Parteien stark abschneiden?

Giegold: Dann werden sich Christ- und Sozialdemokraten bemüßigt fühlen, mehr faule Kompromisse zu machen – zugunsten derer, die zum Nationalismus zurückwollen. Wenn wir Grüne und andere Pro-Europäer stark abschneiden, dann wird es eher dazu führen, dass man den Kurs der europäischen Einigung fortsetzt.

Die Grünen sind in vielen Ländern Europas im Aufwind. Worauf führen Sie das zurück?

Giegold: Zum einen darauf, dass viele Menschen sehen, dass Europa unter Beschuss steht, und sich einer Partei zuwenden, die das nicht mitträgt, sondern sich dem europaskeptischen Rechtsruck entgegenstellt. Zum anderen wegen unseres Kampfes gegen die Klimakrise. Die Menschen sehen ja, dass die Klimavorhersagen nun mit den Hitzesommern und Dürren in der Realität ankommen, und sagen deshalb: Jetzt ist Zeit für Grün.

Bei der Klimapolitik sind viele Ebenen zuständig: Kommunen, Regionen, nationale Regierungen, Europa. Was kann die EU da leisten?

Giegold: Wir haben in der vorigen Legislaturperiode in Europa in allen wichtigen Bereichen die Regeln für Klimaschutz vorangebracht: bei den erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz, bei Lastwagen, Autos und dem Emissionshandel. Die große Herausforderung wird jetzt sein, dass die europäischen Klimaschutzregeln auf nationaler Ebene endlich konsequent umgesetzt werden.

Das dürfte kompliziert werden.

Giegold: Länder, die sich nicht an EU-Umweltschutzregeln halten, muss die EU-Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren belegen.

Wo steht da Deutschland?

Giegold: Die Bundesregierung ist zum Klimabremser geworden. Deswegen brauchen wir eine konzertierte Aktion mit Vereinen, Umweltschutzorganisationen, Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften, um Druck zu machen. Unter Helmut Kohl war Deutschland an der Spitze der fortschrittlichen Staaten, heute ist die Bundesregierung zusammen mit dem Kohleland Polen einer der Blockierer in ganz Europa. Das ist echt bitter.

Sie streben eine Veränderung im Agrarhaushalt an. Was haben Sie vor?

Giegold: Wir geben über die nächsten sieben Jahre 220 Milliarden Euro an europäischen Geldern an landwirtschaftliche Betriebe. Bisher profitieren davon aber vor allem die industriellen Großbetriebe mit Massentierhaltung und Monokulturen. Das Geld muss künftig an jene Bauern gehen, die umweltfreundlich wirtschaften. Das muss nicht alles öko sein, aber wichtig ist, dass die Tiere anständig behandelt werden und Klima und Grundwasser weniger Schaden nehmen.

Dazu brauchen Sie aber die nationalen Regierungen.

Giegold: Richtig, aber wir brauchen dafür vor allem eine politische Mehrheit im Europaparlament. Die Christ-, Sozialdemokraten und Liberalen haben kürzlich klargemacht, dass sich in der Agrarpolitik nichts Relevantes ändern soll. Für uns ist diese Wahl daher eine Entscheidung über die europäische Agrarpolitik. Weniger Ackergifte und hin zu einer gesünderen, lebensfreundlichen Landwirtschaft.

Müssten die Grünen nicht mehr auf ein soziales Europa dringen?

Giegold: Tun wir ja auch. Wer wird denn unter dem Klimawandel zu leiden haben? Das sind doch jene, die sich am wenigsten wehren können.

Was ist mit einem europäischen Mindestlohn?

Giegold: Ein einheitlicher Mindestlohn in ganz Europa ist keine gute Idee. In Rumänien kann nicht das Gleiche gezahlt werden wie in Deutschland. Aber mit einer europäischen Richtlinie sollten wir durchsetzen, dass jedes Land einen eigenen Mindestlohn bekommt, der sich an den jeweiligen Lebenshaltungskosten orientiert und vor Armut schützt. 60 Prozent des mittleren Einkommens mindestens.

Die wirtschaftliche Situation ist in Europa unterschiedlich. Sehen Sie Handlungsbedarf?

Giegold: Wir haben zwar in einzelnen Staaten darauf gedrängt, dass keine neuen Schulden gemacht werden, aber vielen Menschen hat das wenig gebracht. Ich halte nichts davon, mit europäischen Geldern nationale Haushaltslöcher zu stopfen. Was aber Sinn macht, ist, in Gemeinschaftsprojekte zu investieren, an denen Gesamteuropa ein Interesse hat und die uns allen helfen, zum Beispiel ein europäisches Eisenbahnnetzwerk, Erasmus für alle jungen Leute, Investitionen in die Sicherheit oder stärkeren Klimaschutz durch gemeinsame Stromnetze, den Ausbau der Erneuerbaren und der Energiespeicher. Europäisch sind wir da effizienter.

Wie wollen Sie das finanzieren?

Giegold: Zum Beispiel durch eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung. Damit würden wir das Steuerdumping beenden und verhindern, dass in wirtschaftsstarken Regionen viele Unternehmen wenig Steuern zahlen, während andere finanziell ausbluten. Das hätte eine soziale Komponente und würde sichtbar machen: So bekommen wir mit Europa faire Steuern hin, die wir für gemeinsame Investitionen nutzen können.

Sollten die Wähler die EVP zur stärksten Fraktion machen, würden Sie Manfred Weber zum Kommissionschef wählen?

Giegold: Es stellt nicht automatisch die größte Fraktion den Kommissionschef. Zudem habe ich auch Zweifel an seiner Eignung. Gegenüber den Angriffen auf Gerichte und unabhängige Medien von Ungarns Ministerpräsident Orbán hat er keine klaren Worte gefunden hat. Er legt die Mitgliedschaft von Orbáns Fidesz-Partei in der EVP zwar auf Eis, belässt die Politiker aber in ihrer Fraktion und in ihren Funktionen. Wenn er hier schon keine klare Kante zeigt, wie will er als Kommissionspräsident Europas Werte verteidigen?

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