Bundestagswahl 2017 So stehen die Chancen für Martin Schulz

Bonn · Vom anfänglichen Hype um SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist nicht viel übrig – jetzt geht es um seine Zukunft. Schulz hat sich angestrengt, doch er hat es nicht geschafft, im Merkel'schen Wohlfühl-Nebel.

 SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Foto: dpa

Martin Schulz ist fast am Ende seiner Rede, da dreht er noch einmal auf. Gut 45 Minuten lang hat er gezetert, gewitzelt und gedonnert, mit dem Zeigefinger herumgefuchtelt und mit der flachen Hand die Luft zerschnitten. Hat über Gerechtigkeit gesprochen, über Rente, Digitalisierung, Europa. Und bei jedem dieser Themen hat er spöttisch formuliert, was seine Gegnerin Angela Merkel dazu angeblich denkt. „Für mich ist das schwer“, ruft Schulz, „ich muss mein Programm vortragen und dann noch das von Frau Merkel, damit die Wähler den Unterschied sehen. Sie selber sagt ja nichts!“

Es ist ein sonniger Samstag in Karlsruhe, rund eine Woche vor der Wahl. Die 2500 Menschen auf dem Platz klatschen, pfeifen, rufen „Mar-tin! Mar-tin!“ Der SPD-Kanzlerkandidat lässt sich feiern. Viele seiner Sätze beginnen mit: „Als Bundeskanzler werde ich…“ Das klingt angesichts des großen Rückstands auf Merkels Union mindestens realitätsfern. Aber die Umfragen, die Medien, die Schulz schon abgeschrieben haben – all das ist hier heute sehr weit weg.

„Frau Merkel verweigert jede Debatte über die Zukunft des Landes“, schimpft Schulz auf der Bühne weiter – und diese Klage fasst die ganze Tragik seines Wahlkampfs in einem Satz zusammen. Der SPD-Chef redet auf allen Kanälen, legt Papiere vor, gibt Interviews am Fließband. Doch kaum eines seiner Themen ist länger im Bewusstsein geblieben. Bildungsallianz, Investitionspflicht, E-Auto-Quote, Abzug der US-Atomwaffen?

Schulz strampelt sich ab gegen eine beliebte Kanzlerin, die niemanden mit allzu konkreten Plänen erschrecken will. Die populäre Themen von anderen übernimmt. Die weiß, dass die meisten zufrieden sind und in Zeiten von Trump, Erdogan und Kim auf die unaufgeregte Merkel vertrauen. Sie kann es sich sogar leisten, ihre Kernbotschaft als nichtssagenden Buchstabensalat zu plakatieren: „fedidwgugl“ – „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Wechselstimmung? Gibt es nicht.

Schulz hat nicht klargemacht, warum ein Wechsel nötig ist

Schulz hat sich angestrengt, doch er hat es nicht geschafft, im Merkel'schen Wohlfühl-Nebel als Alternative sichtbar zu werden. Er hat den Wählern nicht klargemacht, warum ein Neuanfang nach zwölf Jahren Merkel zwingend nötig ist. Sein großes Thema Gerechtigkeit passt nicht in den Zeitgeist, solange die meisten finden, es gehe Deutschland doch gut. Rekordbeschäftigung, Wachstum, Haushaltsüberschüsse – gegen fedidwugl-Wellness kommt ein erhobener Zeigefinger schwer an.

Über Zukunftsthemen wie Bildung, Klimawandel, Digitalisierung, selbst die Rente, zu denen die SPD einiges zu sagen hat, wurde im Wahlkampf kaum breiter diskutiert. Innere Sicherheit, Kriminalität, Flüchtlinge, die unsichere Welt – das waren die großen Themen. Da hat es Schulz gegen die erfahrene Kanzlerin und die schwarzen Sheriffs der Union schwer. Und wer Merkel wegen zu vieler Zuwanderer strafen will, geht nicht zur SPD.

Dazu kommt Schulz' Beißhemmung. Zwar schimpft er jetzt viel über Merkel, aber das ist zu spät. Selbst noch im TV-Duell Anfang September, dem einzigen direkten Aufeinandertreffen, blieb er zahm. Statt seinen Vorwurf durchzuhalten und zu belegen, Merkels Schlafwagen-Wahlkampf sei ein „Anschlag auf die Demokratie“, relativierte er ihn. Das Duell war ein nettes schwarz-rotes Familientreffen. Man schonte sich, weil man sich ja noch für eine Neuauflage brauchen könnte.

Acht Monate nach Schulz’ Nominierung sieht die Lage nun so aus: Wenn man Umfragen noch glauben kann, wird die SPD nicht stärkste Partei – und Schulz nicht Bundeskanzler. Selbst wenn er gut abschneidet, fehlen ihm die Optionen für eine Mehrheitsbildung.

Das ist bitter für die Genossen. Hatte doch anfangs alles so gut ausgesehen. Ende Januar ging ein Ruck durch Wahl-Deutschland, als der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel überraschend beiseite trat und Schulz als Kanzlerkandidaten vorstellte. Der 61-Jährige wurde über Nacht zum Antidepressivum für eine lethargische SPD.

Die Partei präsentierte ihn als perfekten SPD-Kandidaten: Als ehemaliger Bürgermeister von Würselen vertraut mit den Sorgen der Menschen, glaubwürdig durch seine Aufsteiger-Biografie: abgebrochene Schule, Alkoholsucht, Buchhändler, dann hochgearbeitet bis zum weltgewandten EU-Parlamentspräsidenten. Unbelastet von der Politik der großen Koalition. Daran war viel Inszenierung, aber das schadete Schulz nicht. Dass Journalisten schrieben, ein Ex-Trinker ohne Abitur könne nicht Kanzler werden, war ein Glücksfall.

Bis heute bekommt Schulz zuverlässig Applaus, wenn er über die „selbst ernannten Eliten“ lästert, die so über ihn sprechen. Am Anfang war der hemdsärmelige, zugewandte, rheinisch-fröhliche Schulz aber vor allem eine Projektionsfläche. Für SPD, um aus dem Umfragetief und der erstickenden Umarmung durch Merkel herauszukommen. Für die Wähler, die plötzlich eine Alternative zur ewigen Kanzlerin sahen. Und für die Medien, weil der Wahlkampf nun Spannung versprach.

Es folgte der Schulz-Hype. Die SPD schloss in Umfragen auf, die Begeisterung wuchs, was wiederum die Umfragen anschob. Schulz wurde mit 100 Prozent zum Parteichef gewählt. Der „Schulz-Zug“ dampfte, während Merkel im Streit mit der CSU zermürbt wirkte.

Das ist lange her. Die SPD verlor drei Landtagswahlen und stürzte in den Umfragen ab. Ein Schulz-Hype nach unten setzte ein: Der einst von Fans als „Gottkanzler“ betitelte Kandidat gilt nun als Verlierer. Diese Dynamik aufzuhalten ist fast unmöglich. Schulz gelang es nicht, die Projektionsfläche, die er war, mit Leben zu füllen. Seine Themen verfingen nicht. Er trat nicht als Außenminister ins Kabinett ein, weil er Merkel so besser angreifen wollte – doch er konnte außerhalb der Regierung nie ein Profil entwickeln. Während die Kanzlerin auf roten Teppichen unterwegs war, tingelte Schulz durch die Provinz. Es war ein ungleiches Duell.

Für Schulz geht es am Sonntag nun auch um seine politische Zukunft. Mit einem respektablen Ergebnis könnte er Parteichef bleiben und in einer großen Koalition Vizekanzler werden. Wird der Tag ein Desaster für die SPD, dürfte Schulz’ Stern endgültig verglühen.

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