Große Koalition So liefen die letzten Stunden der Sondierungen

BERLIN · CDU, CSU und SPD zwingen sich durch 26 Stunden Klausur, ehe die Chefs eine Einigung verkünden, die ganz optimistisch ein Aufbruch für Deutschland sein soll. Jetzt warten sie auf das Votum des SPD-Sonderparteitages.

Vielleicht hat Angela Merkel einmal kurz an jene Nacht von Minsk gedacht. Februar 2015. Die Bundeskanzlerin verhandelt 17 Stunden am Stück in der weißrussischen Hauptstadt über eine Waffenruhe für die Ostukraine. Am Ende steht ein Abkommen, das bis heute immer wieder gebrochen wird. Doch drei Jahre später übertrifft diese Januar-Nacht von Berlin alles in Merkels Politkarriere, was die Strapazen von Verhandlungen angeht. Was kommt nach der Müdigkeit? Neue Müdigkeit? Noch mehr Müdigkeit? Hilft morgens um zwei Uhr überhaupt noch eine Runde um den Block, wie sie Ursula von der Leyen, behangen mit einem wärmenden Poncho, Julia Klöckner, Dorothee Bär und Nadine Schön unternommen haben, um einem völlig übermüdeten Geist und Körper mit frischem Sauerstoff wieder neue Befehle zu geben? Geist an Körper: nicht einschlafen. Wach bleiben. Einfach: weiter sondieren. Es geht um Deutschland.

Die geliehene Energie eines nicht abebbenden Adrenalinpegels jedenfalls wird Merkel auch über den neuen Tag mit neuen Gremien- und Fraktionssitzungen retten. Gleiches gilt selbstredend für CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Chef Martin Schulz, den Gastgeber jener rund 26 Stunden, in denen Deutschland wieder einmal eine neue Bundesregierung suchte.

Um 09.32 Uhr hatte die CDU-Vorsitzende „dieses Haus“, wie Merkel die SPD-Zentrale distanziert-neutral nennt, am Donnerstag betreten. Um 11.16 Uhr des kommenden Tages kann sie das Willy-Brandt-Haus wieder verlassen. Mit einem Ergebnis, das Seehofer, Schulz und Merkel gleichermaßen als Erfolg bewerten. Die Opposition sieht das anders. Viele Lobby-Verbände ebenfalls, je nach Interessenlage. CDU, CSU und SPD haben sich in Gesprächen, die „lang, hart, spannend, interessant und in jeder Hinsicht turbulent“ (Schulz) gewesen seien, ans rettende Ufer gezogen.

SPD-Sonderparteitag in Bonn

Der Einstieg in konkrete Koalitionsverhandlungen könnte beginnen, wenn vorher noch am Sonntag kommender Woche der SPD-Sonderparteitag in Bonn diesen Weg mitgehen kann. Der Konvent der Sozialdemokraten ist in der Gleichung der potenziellen Koalitionäre die große Unbekannte. Wie viel Widerstand werden die SPD-Linke und die Jusos leisten? Juso-Chef Kevin Kühnert lässt am Freitag schon vor dem Auftritt von Schulz, Merkel und Seehofer seine Skepsis über die Einigung durchblicken: „Beim Blinddarm, wie auch in Sondierungsgesprächen: Obacht bei Durchbrüchen!“, twittert er in die Berliner Republik.

Schnell macht bei der SPD eine sogenannte „Positivliste“ die Runde. Tue Gutes und rede darüber! Die Basis soll in der Zeit bis zum Sonderparteitag schließlich wissen, was das 13-köpfige Sondierungsteam den Unionisten alles abgetrotzt hat. Zum Beispiel: gebührenfreie Kitas, Solidarrente oberhalb der Grundsicherung für Geringverdiener nach 35 Beitragsjahren, Rückkehr zur Beitragsparität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der gesetzlichen Krankenversicherung, Abbau des Soli, womit vor allem untere und mittlere Einkommen entlastet werden sollen. Die Liste umfasst knapp 80 Punkte.

Die Parteichefs sind zufrieden. Irgendwie. Bei Seehofer klingt es beinahe euphorisch: „Das ist ein Aufbruch. Und da werden wir die Gesellschaft auch mitnehmen.“ Nach allen Schwierigkeiten, nach „Stockungen“, wie es Merkel in der Art eines Darmspezialisten beschreibt, nach „turbulenten Momenten“ (Schulz) melden CDU, CSU und SPD nach dem Tag, der Nacht und dem Morgen von Berlin: Die nächste Teiletappe auf dem Weg zum Ziel einer Bundesregierung ist erreicht. Es geht also weiter – vorbehaltlich eines positiven Votums des SPD-Sonderparteitages.

Erleichterung bei Schulz

Schulz wirkt für seinen Teil fürs Erste so erleichtert („Wir haben hier hervorragende Ergebnisse erzielt“), dass er in seiner Rolle als Gastgeber auch den Mitarbeitern der Parteizentralen für deren Mitfahrt durch die Sondierungswoche dankt. Hier im Willy-Brandt-Haus, dort im Konrad-Adenauer-Haus und auch denen bei der CSU in München, nur: „Wie heißt das bei Euch nochmal?“, wendet er sich an Seehofer. „Franz Josef Strauß“, gibt der CSU-Chef mit Tadel in der Stimme zurück. Merkel sagt noch: „Ein bisschen Spaß muss auch sein.“

Also gut: Dank auch an die Mitarbeiter im Franz-Josef-Strauß-Haus. Wieder was gelernt. Kann Schulz für eine nächste GroKo womöglich brauchen. Aber davor steht die Mühsal der nächsten Ebene. Schulz geht mit Blick auf den Sonderparteitag in Bonn in der kommenden Woche auf Werbe- und Zustimmungstour für das Sondierungsergebnis. Vor allem den GroKo-kritischen SPD-Landesverband in NRW, der rund ein Viertel der Delegierten des Sonderparteitages stellt, sowie die Bayern-SPD will er überzeugen, dass Opposition Mist sei.

NRW-Landeschef Michael Groschek ist schon einmal auf Kurs: „Besser gut regieren, als nicht regieren“, sagt er in Anspielung auf die Absage von FDP-Chef Christian Lindner Mitte November („Besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“) Ganz am Ende von Koalitionsverhandlungen müsste Schulz dann nochmal die SPD-Mitglieder fragen. Aber bis dahin wird es mindestens Ostern, wie Seehofer schon mal ein Zeitziel für die erhofften Verhandlungen vorgibt.

Hoffen auf die Zustimmung

Schulz nimmt für sich in Anspruch, dass die SPD „keine roten Linien“ für die Sondierungen gezogen, dafür aber „möglichst viele rote Inhalte durchgesetzt“ habe. Nein, auf der Kippe hätten die Gespräche nicht gestanden, „das kann ich nicht bestätigen“, aber es habe schon Punkte gegeben, „wo verschiedene Elemente zusammengekommen“ seien. Jetzt ist die SPD wieder am Zug.

Merkel sagt noch: „Es ist ein Papier des Gebens und Nehmens". Sie hofft, dass die SPD jetzt gibt: ihre Zustimmung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort