Kommentar zur Zukunft der Groko Nach dem Sieg

Meinung | Straßburg · Mit der Ernennung von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin hat Europa eine Krise vermieden. Das ist in diesen Zeiten ein großer Erfolg, kommentiert Chefredakteur Helge Matthiesen.

Vor wenigen Tagen galt Angela Merkel vielen Beobachtern als ausgemachte Verliererin der Postendebatte um den EU-Kommissionspräsidenten. Heute steht sie als große Gewinnerin da. Wer die Kanzlerin in der Abenddämmerung ihrer Amtszeit wähnte, wurde eines Besseren belehrt. Ausgangspunkt war eine völlig verkorkste Kandidatensuche für die Nachfolge Jean-Claude Junckers. Das ist erst ein paar Tage her. Heute ist eine Deutsche gewählte neue Chefin der mächtigen EU-Kommission. Europa hat eine Krise vermieden. Das ist in diesen Zeiten ein großer Erfolg. Deutschland und Frankreich wirkten zusammen, ohne sich wirklich einig zu sein. So geht es also auch.

Innenpolitisch hat Merkel ihre durchaus tüchtige aber politisch angeschlagene Vertraute Ursula von der Leyen weg- und nach oben befördert. Die Bundeswehr kann auf einen neuen Anfang hoffen. Mit nur einem weiteren Schachzug hat sie ihre Favoritin für die Nachfolge als Bundeskanzlerin besser positioniert und den schwelenden Machtkampf in der CDU bereinigt. Sie stoppte den notorisch überambitionierten Jens Spahn. Auch das Glück kam zur Hilfe, denn von der Leyen hätte scheitern können.

Merkel bewies in jeder Situation Übersicht, Sinn für das Machbare und den richtigen Moment, außerdem eine Kaltblütigkeit, die man von ihr kennt, die sie jedoch lange nicht mehr gezeigt hat. In wenigen Stunden war die Welt eine ganz andere und niemand hat es kommen sehen. Sie hätte Grund zu triumphieren und lässt es sein.

Das ist klug, denn die SPD ist nach wie vor ihr Koalitionspartner, und den hat sie böse vorgeführt. Das ist nur zu einem Teil die Verantwortung der Kanzlerin. Die SPD hat selbst ganz wesentlich dazu beigetragen, sich erst im Europaparlament und dann auch am Berliner Kabinettstisch in eine aussichtslose Lage zu manövrieren. Sie ist isoliert, und sie ist sich nicht einig. Es war niemand an der Spitze, der eine Richtung vorgab und rasch hätte die Pferde wechseln können, als sich die Konstellationen verschoben. Die Partei tappte in Fallen, die sie sich auch noch selbst aufgestellt hatte.

Selbst die Kanzlerin scheint den Widerspruch der SPD für nicht weiter bedeutsam gehalten zu haben. Ihre Analyse ist richtig, denn in diesem Zustand wäre es selbstmörderisch, die Regierung zu verlassen und Neuwahlen in Kauf zu nehmen. So schimpfen diverse Sozialdemokraten wie die Rohrspatzen, Folgen hat das jedoch erst einmal nicht. Das Kabinett winkte am Tag nach der Schlacht einträchtig große Gesetzesvorhaben durch. Die Groko funktioniert.

Schwer zu bewerten ist die Frage, wie es nach dem Sommer weitergeht. Die SPD wird diese Tage in Erinnerung behalten, denn es wiederholt sich, was der Partei immer widerfährt. Sie kann tun, was sie will, sie steht als Verliererin da. Die Kanzlerin nimmt im Zweifel keine Rücksicht auf den Partner. Der rutscht immer tiefer in den Abwärtstrend. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese neuerliche negative Erfahrung eine bedeutende Rolle bei den Grundsatzentscheidungen der SPD spielen wird. Wenn die Wahl zwischen Weitermachen und Aufhören eine Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Übeln ist – darauf läuft es hinaus – dann ist die große Koalition nicht mehr sehr stabil. Offen ist dann nur noch die Frage, wer an die Parteispitze tritt und die Verantwortung für den folgenreichen Schritt übernimmt.

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