Kommentar 25 Jahre Mauerfall: Die neue Mauer

Die offiziellen Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls - so schön und würdig sie waren - haben einen zentralen Aspekt dieses Teils der Geschichte vernachlässigt: die Folgen für das heutige Europa.

Die Bundeskanzlerin hat zwar nach dem Motto, dass Träume wahr werden können, die Überwindung der deutschen Teilung als Modell für andere Krisen- und Konfliktherde der Welt gewürdigt. Aber das blieb sehr im Ungefähren und es blieb Politkern im Ruhestand vorbehalten, die wichtigste Gefahr zu benennen: den Vertrauensverlust in Europa.

Der Kontinent steht vor einem neuen Kalten Krieg, und damit ist eine der wesentlichen Errungenschaften der Ereignisse vor 25 Jahren gefährdet: die Errungenschaft von Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa. Stattdessen halten vereinfachende Klischees Einzug in die politische Debatte, die überwunden geglaubt waren. Innerdeutsches Klischee Nummer eins: Die Sozialdemokraten haben die Einheit verschlafen oder sogar nicht gewollt. Das ist in Teilen richtig, übersieht aber die immense Bedeutung, die Willy Brandts Entspannungspolitik für das Ende der deutschen und der europäischen Teilung gehabt hat.

Gewiss: Christ- und Freie Demokraten, allen voran Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, haben den Mantel der Geschichte ergriffen, an ihm genäht haben Willy Brandt und Helmut Schmidt aber in bedeutendem Ausmaß. Ohne deren Politik, auch ohne dieses mühsame Ringen um Details in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, ohne dieses Ringen um Millimeterfortschritte auch im innerdeutschen Dialog, wäre 1989 so nicht möglich gewesen.

Kluge Beobachter wiesen schon damals daraufhin, dass man aus dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht pauschal einen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus machen dürfe, dass man den Kollaps eines halben Kontinents nicht auskosten dürfe.

Das aber ist - je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr - geschehen. Es hieße, die Verantwortlichkeiten auf den Kopf zu stellen, wenn man jetzt EU und Nato für die neue Zuspitzung der Lage, für den neuen Konflikt mit Russland hauptverantwortlich machte. Moskau, namentlich Wladimir Putin, hat sich die Krim einverleibt und ist dabei, es mit östlichen Teilen der Ukraine ebenso zu tun.

Es spricht aber schon Bände, wenn ein so besonnener Mann wie Hans-Dietrich Genscher jetzt mahnend - auch im GA-Interview vom Wochenende - Stimme und Hände erhebt. Und es ist gewiss kein Zufall, wenn sein langjähriger Freund Michail Gorbatschow Gleiches tut. Beide treibt die Sorge um, die europäischen Staaten könnten wieder in Sprachlosigkeit und Machtdemonstrationen zurückfallen, statt Zusammenarbeit und Vertrauen zu pflegen.

In Sonderheit die EU hat mit ihrer Ukrainepolitik kurzfristige Erfolgsinteressen über eine langfristig durchdachte Politik des Interessenausgleichs gestellt. Russland ist nicht Asien, sondern Europa, Russland ist keine Mittel-, sondern immer noch eine Großmacht. Demütigung ist das Ende von Diplomatie. Selbst wer Putin für einen Diktator hält, kommt im 21. Jahrhundert nicht umhin, mit ihm zu verhandeln, statt ihm zu drohen. So gesehen muss der Jahrestag des Mauerfalls Anlass sein, den Zustand der europäischen Ost-West-Beziehungen zu überdenken. Vielleicht auf einem Gipfel. Gibt doch sonst so viele davon.

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