Kommentar über den Ausgang der Türkei-Wahl Dämpfer für Erdogan

Meinung | Istanbul · Erdogan und seine Partei AKP haben bei der Kommunalwahl eine Niederlage hinnehmen müssen. Der Ausgang zeigt, dass der Geist der Demokratie in der Türkei noch lebendig ist, kommentiert GA-Korrespondent Thomas Seibert.

Selbst ein Recep Tayyip Erdogan kann die Naturgesetze der Politik nicht außer Kraft setzen. Nach 16 Jahren an der Macht fegt eine Wechselstimmung seine Partei AKP aus den Rathäusern von Ankara und Istanbul. Der Ausgang der Kommunalwahl zeigt, dass der Geist der Demokratie in der Türkei noch lebendig ist. Auch der Sieg der liberalen Anwältin Zuzana Caputova bei der Präsidentschaftswahl in der Slowakei signalisiert: Mit dem Wähler gibt es eine Kraft, die den Siegesmarsch der Populisten aufhalten kann.

Trotz Erdogans fast totaler Kontrolle über die Medien und den Staatsapparat haben die Türken einen friedlichen Machtwechsel in einigen der größten Städten des Landes erzwungen. Dass die Wechsel auch wirklich stattfinden, ist in der Türkei von heute nicht selbstverständlich. Noch vor wenigen Tagen hatte Erdogan gedroht, er werde erfolgreiche Oppositionspolitiker einfach wieder absetzen lassen. Das System Erdogan sieht keine eigenen Machteinbußen vor. Statt dessen ein böses Erwachen: Zu groß war die Zahl der Wähler, die sich von der AKP abwandten, als dass die Regierung die Resultate einfach umfrisieren könnte.

Stimmen kostete vor allem die schlechte Wirtschaftslage und die Entscheidung der pro-kurdischen Partei HDP, in den Metropolen die bürgerlichen Parteien gegen Erdogan zu unterstützen. Noch wichtiger ist, dass in der Türkei etwas Grundsätzliches in Bewegung geraten ist. Istanbul und Ankara, die Heimat von rund einem Drittel aller türkischen Wähler, wurden 25 Jahre lang von islamisch-konservativen Politikern regiert. Bis zu diesem Sonntag. Jetzt hat Erdogan zum ersten Mal in seiner langen Karriere eine Wahl verloren, die er selbst zur Abstimmung über seine Politik hochstilisiert hatte. Er hat zum ersten Mal die Stimmung im Wahlvolk falsch eingeschätzt. Erdogan, ein Populist par excellence, hat sich regelrecht verzockt.

Seine Niederlage ist auch eine Warnung an andere Populisten, die auf eine starke Polarisierung der Gesellschaft setzen. Die Wähler mochten Erdogans ständige Anfeindungen nicht mehr hören. Auch seine populistische Wirtschaftspolitik hat einen Dämpfer erhalten. Über Jahre trieb er mit billigem Geld die Konjunktur an. Experten-Warnungen ignorierte er, den Absturz der Lira deutete er als gemeine Angriffe finsterer Kräfte im Ausland.

Der Wahlabend hat aus der Türkei keine starke Demokratie gemacht. Doch die Türken haben der Welt gezeigt, dass sie auch einem übermächtigen Politiker wie Erdogan die Flügel stutzen, wenn sie es für richtig halten.

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