Republik der Angst Zehntausende Menschen in der Türkei inhaftiert

Istanbul · Zehntausende Menschen sind als angebliche Unterstützer des Predigers Fethullah Gülen bereits inhaftiert worden. Der Anti-Terror-Kampf hat Züge einer Hexenjagd angenommen, bei der mutmaßliche Kritiker zu Terroristen abgestempelt werden.

 Hat in der Türkei vieles im Griff: Präsident Recep Tayyip Erdogan.              Hat in der Türkei vieles im Griff: Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Hat in der Türkei vieles im Griff: Präsident Recep Tayyip Erdogan. Hat in der Türkei vieles im Griff: Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Foto: dpa/Oliver Weiken

In den Morgennachrichten erfuhren die Türken am Dienstag, dass die Behörden schon wieder Jagd auf angebliche Regierungsfeinde machen. Die Polizei nahm 180 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen fest. Die nicht enden wollende Welle von Massenfestnahmen und die Einschränkungen von Versammlungs- und Meinungsfreiheit haben aus der Türkei eine „Republik der Angst“ gemacht, sagt der Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu, der die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verlassen hat. Doch nicht nur Normalbürger und Erdogan-Gegner haben Angst. Selbst Anhänger des Präsidenten fürchten sich inzwischen vor Verhaftung.

Zehntausende Menschen sind als angebliche Unterstützer von Gülen inhaftiert, der von der Regierung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht wird. Oft reicht ein Konto bei einer Bank der Gülen-Bewegung oder eine anonyme Denunziation für eine Verurteilung aus. Die Festnahmen vom Dienstag richteten sich gegen Nutzer einer Mitteilungs-App, die bei der Gülen-Bewegung beliebt war.

Erdogans Regierung argumentiert, der Kampf gegen die Putschisten und die gleichzeitige Bedrohung durch Terrororganisationen wie die kurdische PKK oder den dschihadistischen Islamischen Staat erforderten radikale Maßnahmen. Da die Justiz größtenteils auf Regierungslinie gebracht worden ist, gibt es kaum Widerstand von Richtern oder Staatsanwälten.

Der Anti-Terror-Kampf hat deshalb längst Züge einer Hexenjagd angenommen, bei der mutmaßliche Regierungskritiker zu Terroristen abgestempelt werden. Am Dienstag wurde ein Bürgermeister der linksnationalen Oppositionspartei CHP in Haft genommen, weil er mit Gülen kooperiert haben soll. Seit den Kommunalwahlen im Frühjahr hat das Innenministerium fast 30 neu gewählte Bürgermeister der Kurdenpartei HDP wegen angeblicher Nähe zur PKK abgesetzt und durch regierungstreue Statthalter ersetzt.

Die Kritik am Demokratie-Abbau ist eine der wichtigsten Triebfedern für AKP-Dissidenten wie Yeneroglu. Er will sich einer neuen Partei des früheren Vizepremiers Ali Babacan anschließen, die in den kommenden Wochen als Reform-Alternative zur AKP gegründet werden soll. Vorige Woche hatte der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bereits seine „Zukunftspartei“ gegründet, die als neue islamisch-konservative Kraft antritt. Der Journalist und langjährige AKP-Kenner Rusen Cakir erwartet einen weiteren Niedergang der Regierungspartei, die schon jetzt keine eigene Mehrheit im Parlament hat.

Bei ihrem Regierungsantritt im Jahr 2002 habe sich die AKP den Kampf gegen das Unrecht auf die Fahne geschrieben, sagte Yeneroglu in einem Interview. Doch inzwischen sei das Land unter der AKP zur „Republik der Angst“ geworden. In der Türkei werde wieder gefoltert. Vergehen der Sicherheitskräfte würden nicht geahndet. „Versammlungsfreiheit und Presse- und Meinungsfreiheit gibt es nicht mehr.“ Yeneroglu sieht in dieser Entwicklung ein historisches Versagen des politischen Islam in der Türkei.

Die Aufbruchstimmung bei Erdogan-Gegnern aus den Reihen der AKP lässt hartgesottene Anhänger des Präsidenten erschaudern. Sie befürchten, dass sie im Falle eines Regierunsgswechsels in Ankara zur Rechenschaft gezogen werden. Sollte Erdogan seine Macht verlieren, „dann landen wir alle vor dem Richter“, sagte der regierungsnahe Journalist Cem Kücük in einer Talkrunde im TV. Erdogan selbst werde möglicherweise nicht sofort vor Gericht gestellt – „aber sie werden in seinem Umfeld anfangen. Wer wird mich und dich dann retten?“ fragte Kücük den ehemaligen AKP-Abgeordneten Mehmet Metiner.

Selbst eine Flucht ins Ausland wäre in diesem Fall keine Alternative, ist Kücük sicher. „Ich kann Englisch, ich könnte also nach London gehen. Aber die würden mich sofort an die Türkei ausliefern, sagte der Journalist.

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