Flucht nach Europa Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nimmt drastisch zu

BERLIN · Der Jüngste war acht Jahre alt und kam aus Eritrea. Der Junge kam allein, ohne jede Begleitung und hatte sich auch auf der Flucht offenbar keiner Gruppe angeschlossen. Endstation war der Hauptbahnhof München, in dem alle Zugreisenden aussteigen müssen, weil es ein Sackbahnhof ist.

Was Andreas Dexheimer in diesen Wochen immer häufiger erlebt, ist das Ende einer meist Tausende Kilometer langen Flucht unter höchsten Gefahren von Kindern und Jugendlichen aus den Krisen- und Kriegsgebieten Nordafrikas oder des Nahen Ostens.

Das besondere Merkmal: Diese Kinder kommen allein, ohne ihre Eltern. Die Schlepper benutzten die Kinder oft, "um Druck auf die Eltern" auszuüben und den Preis für Schleusung und Überfahrt nach Europa hochzutreiben.

Dexheimer, Leiter der Geschäftsstelle München der Diakonie Jugendhilfe Oberbayern, sitzt neben Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), die gerade ihren Entwurf für das "Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendliche" durchs Kabinett gebracht hat. Am 1. Januar 2016 soll das Gesetz, das nun durch Bundestag und Bundesrat muss, in Kraft treten.

Darin ist für alle 16 Länder eine Pflicht zur Aufnahme unbegleiteter Flüchtlingskinder und Jugendlicher geregelt; zudem wird die Altersgrenze zu ihrem Schutz als Minderjährige von 16 auf 18 Jahre angehoben. Das Ziel: angemessene Betreuung, Unterkunft und Versorgung. Schwesig verweist auf bundesweite Zahlen, nach denen 2006 erst 600 Minderjährige ohne ihre Eltern nach Deutschland geflüchtet waren, 2013 waren es dann 6600, im vergangenen Jahr bereits 18 000 und allein bis Mai dieses Jahres stieg diese Zahl nochmals um 4100 auf gut 22 000 an. Schwesig: "Und die Zahl wird weiter steigen, deshalb dieses Gesetz." Die Ministerin ist überzeugt: "Ich glaube, die Reise durch Deutschland ist die sicherste auf dem gesamten Fluchtweg."

In München, das neben dem grenznahen Passau, Hamburg oder Dortmund als "Drehkreuz" für die Einreise unbegleiteter Kinder und Jugendlicher gilt, hat sich die Zahl der Acht-, Zehn-, Zwölf- oder 14-Jährigen, die vor Krieg und Gewalt wie auch vor Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten oder Zwangsprostitution fliehen, innerhalb von zwei Jahren verzwanzigfacht, so Dexheimer. Kamen 2013 erst 550 Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern auf der Flucht waren, in München an, waren es 2014 bereits gut 2500.

In diesem Jahr rechnet Dexheimer mit mehr als 10 000 Kindern und Jugendlichen, die meist aus Syrien, Irak, Eritrea, Somalia und Afghanistan allein oder in Gruppen, in jedem Fall aber ohne ihre Eltern den Weg in ein besseres Leben suchten. Bei 10 000 Flüchtlingskindern stoße auch eine Stadt wie München an ihre Grenzen. Es fehle nicht am Geld, aber an Sozialarbeitern, Psychologen, Vormündern wie auch an Immobilien für die Unterkunft. "Ein Vier-Bett-Zimmer ist der günstigste Fall."

Doch die minderjährigen Armutsflüchtlinge stehen auch für Zukunft. Dirk Scheer, Dezernent des mit 60 Einwohnern pro Quadratkilometer dünn besiedelten Landkreises Vorpommern-Greifswald, sagt beispielsweise: "Wir sehen das als große Chance für unseren Landkreis." Die zunehmende Überalterung schaffe Probleme. Und so könnten die minderjährigen Flüchtlinge später gut in Pflegeberufen gebraucht werden.

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