Amnesty International kritisiert Willkür der Behörden Über 200 mutmaßliche Putschisten in Istanbul vor Gericht

Istanbul · Am Montag hat der Prozess gegen die mutmaßlichen Anführer des Putschversuchs im Juli begonnen. Viele türkische Ex-Offiziere und Zivilisten müssen mit lebenslangen Haftstrafen rechnen.

 Türkische Polizisten und Soldaten eskortieren in Ankara den ehemaligen türkischen Luftwaffengeneral Akin Ozturk (vorne Mitte) sowie andere Männer zu einem Prozess.

Türkische Polizisten und Soldaten eskortieren in Ankara den ehemaligen türkischen Luftwaffengeneral Akin Ozturk (vorne Mitte) sowie andere Männer zu einem Prozess.

Foto: dpa

Eine lange Kolonne von Angeklagten in Handschellen, von jeweils zwei Gendarmen geführt und begleitet von schwer bewaffneten Soldaten sowie von den Beschimpfungen der Zuschauer hinter den Absperrungen: Auf dem Gelände eines Gefängnisses in der türkischen Hauptstadt Ankara hat am Montag der Prozess gegen die mutmaßlichen Chefs des Putschversuches vom vergangenen Jahr begonnen.

Die 221 Angeklagten sind größtenteils Ex-Offiziere, die in der Putschnacht des 15. Juli die aufständischen Truppen befehligt haben sollen. Ob in dem Verfahren die ganze Wahrheit ans Licht kommen wird, ist fraglich.

Der Hauptbeschuldigte fehlte bei der Eröffnung des Mammutprozesses im Sincan-Gefängnis: Der in den USA lebende islamische Geistliche Fethullah Gülen gilt bei Justiz und Regierung der Türkei als Drahtzieher des Putschversuches – doch Washington lehnt eine Abschiebung des 76-Jährigen bisher ab.

Gülens Anhänger und westliche Geheimdienste werfen Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, den Putschversuch als Vorwand zu benutzen, um gegen Andersdenkende vorzugehen: Mehr als hunderttausend Menschen haben seit dem Putschversuch ihre Arbeit verloren, Zehntausende sitzen in Haft.

In dem Verfahren geht es um die mutmaßlichen Gülen-Anhänger im „Rat für Frieden im Land“, der in der Putschnacht die Macht an sich reißen wollte. Alles andere als lange Haftstrafen für die Angeklagten wäre eine Sensation; seit dem Putschversuch reicht bereits der Vorwurf einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung aus, um einen Betroffenen ins Gefängnis zu bringen. Am Montag forderten Angehörige der Opfer vor und im Gerichtssaal die Hinrichtung der Angeklagten; einige trugen Seile mit Galgenknoten bei sich. Bei dem gescheiterten Umsturzversuch starben rund 250 Menschen, weitere 2700 wurden verletzt.

Kommandant der Luftwaffe soll Befehle erteilt haben

An der Spitze der Kolonne der Beschuldigten wurde Akin Öztürk ins Gericht geführt, ein ehemaliger Kommandant der türkischen Luftwaffe. Akin soll in der Putschnacht die entscheidenden Befehle gegeben haben – er selbst bestreitet eine Verwicklung. Kurz nach dem Putsch waren Fotos des Vier-Sterne-Generals mit Verletzungen im Gesicht und am Kopf aufgetaucht, die Spekulationen über eine Misshandlung nach seiner Festnahme nährten. Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete damals zunächst, Akin habe alles gestanden. Später erklärte die Staatsanwaltschaft, der General habe alle Vorwürfe zurückgewiesen.

Es gibt noch viele andere Widersprüche in der offiziellen Darstellung der Putschnacht. Nach Presseberichten war der türkische Geheimdienst MIT bereits mehrere Stunden vor Beginn des Aufstandes am Abend des 15. Juli über die Pläne der Aufrührer informiert. Geheimdienstchef Hakan Fidan soll vor Ausbruch des Aufstandes stundenlang mit Generalstabschef Hulusi Akar konferiert haben. Warum nichts getan wurde, um den Putsch zu verhindern, ist bis heute ungeklärt.

Der türkische Staat mit Erdogan an der Spitze nennt die Gülen-Anhänger auch ohne Verurteilung „Terroristen“ und zeigt kein Interesse an einer unabhängigen Aufarbeitung der offenen Fragen.

Dass der Putsch als Anlass für eine Hexenjagd auf mutmaßliche Erdogan-Gegner dient, steht für die Opposition, westliche Regierungen und Menschenrechtsorganisationen fest. Amnesty International kritisierte in einem neuen Bericht am Montag die Willkür der Behörden beim Umgang mit mutmaßlichen Gülen-Anhängern. Viele Opfer der Entlassungswelle im öffentlichen Dienst seit Juli hätten keine Chance auf eine neue Anstellung, weil sie als „Terroristen“ gebrandmarkt seien. Viele Existenzen seien zerstört worden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Realpolitik siegt
Kommentar zum Treffen von Scholz und Xi Realpolitik siegt
Zum Thema
Aus dem Ressort