Macht abgeben, um sie zu erhalten Eine Analyse über Putins Verfassungsreform

Moskau · Wladimir Putin und sein Gefolge veranstalten ihre Verfassungsreform mit dem Tempo eines Staatsstreiches. Aber noch ist unklar, welches System dabei herauskommen soll. Eine Analyse.

 Alles im Blick: Russlands Präsident Wladimier Putin Anfang  Januar bei einer Militärübung am Schwarzen Meer.

Alles im Blick: Russlands Präsident Wladimier Putin Anfang Januar bei einer Militärübung am Schwarzen Meer.

Foto: dpa/Alexei Druzhinin

Das Tempo ist enorm. Am Mittwoch kündigte Wladimir Putin eine Verfassungsreform an, entließ dann die Regierung, nominierte einen neuen Premierminister. Gleich darauf bestätigte die Staatsduma Putins Kandidaten Michail Mischustin, Putin ernannte ihn sofort offiziell. Mischustin, vorher Chef der Steuerbehörde, versicherte, seine Regierung werde ihre Arbeit in enger Zusammenarbeit mit dem Parlament organisieren. Ganz im Geist der von Putin gewünschten Verfassungsänderung, dass in Zukunft nicht mehr der Präsident, sondern die Duma den Premier und seinen Minister bestimmen wird.

Der Kreml hat schon eine 75-köpfige Arbeitsgruppe zusammengetrommelt, Parlamentarier, Juristen, auch Geschäfts- und Theaterleute sowie eine Stabshochsprungolympiasiegerin. Und die Wähler sollen schnell über alle Verfassungsänderungen abstimmen, nach Informationen aus dem Föderationsrat, dem Oberhaus des russischen Parlaments, noch vor dem Ersten Mai. Kreml-nahe Stimmen erklären, der Transit der Macht Wladimir Putins habe begonnen. Tatsächlich sehen seine Verfassungsvorschläge auch vor, dass er 2024 nicht mehr für das oberste Amt in Russland kandidieren kann. Liberale Medien dagegen reden von Staatsstreich. „Russland hört auf, die Superpräsidialrepublik zu sein, die die Jelzin-Verfassung geschaffen hat“, schreibt die Zeitung Wedomosti. „Aber es wird auch keine vollwertige parlamentarische Demokratie.“

Welche Position wird der Staatschef übernehmen?

Und alle fragen sich, welche Position der Staatschef in dem umgebauten System übernehmen wird. „Putin weiß es wohl selbst noch nicht“, sagt der Moskauer Politologe Juri Korgonjuk unserer Zeitung. Die Rolle des Parlaments wird gestärkt, deshalb gilt es als durchaus möglich, dass Russlands starker Mann sich zum Vorsitzenden der Staatspartei „Einiges Russland“ küren lässt und als Sprecher in die Staatsduma einzieht, um von dort die Regierung und ihre Politik zu kontrollieren. Oder sich von der Staatsduma selbst zum Regierungschef wählen lässt, das Amt hatte er schon 2008 für vier Jahre inne, ohne die Zügel aus der Hand zu geben.

Allerdings bröckeln die Popularitätsraten von „Einiges Russland“ chronisch. Fraglich, ob die Partei bei den 2021 anstehenden Duma-Wahlen ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament halten kann. Aber im Grundgesetz wird auch der sogenannte Staatsrat verankert, bisher ein rein beratendes Gremium, in dem sich vor allem die Gebietsgouverneure mehrmals jährlich versammeln. Welche Vollmachten der Staatsrat erhalten wird, ist offen, aber viele Experten vermuten, Putin werde 2024 den Vorsitz übernehmen. Eine andere Option wäre die Vereinigung des Staatsrates mit dem Sicherheitsrat, dem Wladimir Putin als Präsident schon jetzt vorsitzt. Oder, dass er gar den Vorsitz des Föderationsrates übernimmt. Dessen Zustimmung wird sein Nachfolger als Präsident brauchen, um Verteidigungs- und Innenminister sowie die Chefs der Sicherheitsorgane ernennen zu können.

40 verschiedene Varianten vorhanden

Es heißt, auf Putins Schreibtisch lägen insgesamt 40 verschiedene Varianten. „Unwichtig, welches Amt Putin einnehmen wird“, räsoniert der Oppositionelle Dmitri Gudkow. „Die Hauptsache ist, dass es ein Amt auf Lebenszeit sein wird.“ Und der Publizist Andrei Kolesnikow glaubt, man bemühe sich, eine Infrastruktur des Machttransits zu schaffen, die Putin zu seinem eigenen Nachfolger macht. Die Mehrzahl der Moskauer Beobachter glauben, dazu gehöre ein unselbstständiger und loyaler Gefolgsmann als Präsident.

Selbst der gerade entlassene Premier Dmitri Medwedew gilt keineswegs als abgeschrieben, schließlich hielt er Putin einmal vier Jahre lang den Sessel des Staatschefs warm. Unklar ist auch, wie das neue System einmal ohne Wladimir Putin funktionieren wird. Liberale Beobachter hoffen, mit der Duma würden die Parteien ebenfalls wieder gestärkt. „Die Wahlen in die Staatsduma bekommen wieder einen Sinn“, sagt der Verfassungsjurist Viktor Scheinis. Und offenbar soll es mehrere Machtzentren geben, die sich gegenseitig kontrollieren, was Hoffnung auf einen neuen Pluralismus nährt. Aber das ist Zukunftsmusik, Putins letzte Amtszeit endet erst in vier Jahren. Dann wird er 71 sein, zwei Jahre jünger als Donald Trump heute.

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