Krise in Brasilien Rousseff ruft zum Widerstand auf

Puebla · Brasiliens Senat billigt Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin. Die spricht von einer juristischen Farce.

 „Ich habe Fehler begangen, aber keine Verbrechen“: Dilma Rousseff gestern nach dem Senatsbeschluss.

„Ich habe Fehler begangen, aber keine Verbrechen“: Dilma Rousseff gestern nach dem Senatsbeschluss.

Foto: dpa

Schon am Tag vor der Schicksalssitzung im Senat nahm Dilma Rousseff ihre Fotos von der Wand im dritten Stock des Präsidentenpalasts in Brasilia und packte ihre persönlichen Habseligkeiten ein. Die Strategen der brasilianischen Präsidentin hatten nachgezählt, und es war klar, dass es nicht reichen würde, um die Eröffnung des Amtsenthebungsverfahrens zu verhindern. Nach einer Marathonsitzung von mehr als 20 Stunden entschied sich der Senat am Donnerstag im Morgengrauen mit 55 gegen 22 Stimmen für die Eröffnung eines Prozesses. Zuvor hatte schon das Abgeordnetenhaus dafür gestimmt.

Damit ist Rousseff von der linken Arbeitspartei (PT) nach Fernando Collor de Melo die zweite Präsidentin in 31 Jahren Demokratie, gegen die ein Amtsenthebungsverfahren offiziell eröffnet wird. Collor de Melo, inzwischen Senator, beklagte sich zwar bitter über die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit – später sei er von der Justiz vom Korruptionsvorwurf entlastet worden – stimmte aber trotzdem für die Absetzung Rousseffs.

Vorgeworfen wird der 68-Jährigen kreative Haushaltsführung, um im Wahlkampf 2014 das Defizit zu vertuschen. Dahinter steckt aber ein rasanter Verlust der Regierungsfähigkeit durch eine Wirtschaftskrise, schwelende Korruptionsaffären, die über 200 Politiker aller Parteien sowie Unternehmer hinter Gitter gebracht haben, und das Auseinanderbrechen ihrer Regierungskoalition.

Rousseff ruft dazu auf, gegen den Staatsstreich auf die Straße zu gehen

„Ich habe Fehler begangen, aber keine Verbrechen“, sagte Rousseff, als sie nach dem Beschluss vor die Medien trat. Sie erklärte sich zum Opfer einer juristischen Farce und einer Sabotagekampagne. Rousseff warnte, die sozialen Errungenschaften aus 13 Jahren PT-Regierungen stünden nun auf dem Spiel und rief die Bevölkerung dazu auf, gegen den Staatsstreich auf die Straße zu gehen.

Anschließend wurde sie für längstens 180 Tage suspendiert, darf aber weiter in der Residenz wohnen bleiben, hat ein Recht, Dienstwagen und Sicherheitspersonal zu benutzen und rund 300 Mitarbeiter zu behalten.

Die Amtsgeschäfte muss sie an Vizepräsident Michel Temer vom Mitte-Rechts-Koalitionspartner PMDB abgeben, während ein Ausschuss unter Leitung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs die Anklageschrift prüft, die dann erneut vom Senat mit 54 Stimmen verabschiedet werden muss, damit die Amtsenthebung wirksam wird.

Die politische Krise schwelt damit weiter. Rousseffs Anhänger wie Humberto Costa von der PT sprachen von einem beunruhigenden Präzedenzfall, der den Unterlegenen der Wahl von 2014 durch Hinterzimmer-Mauscheleien den Weg zur Macht ebne. Während der Senatssitzung, die im Gegenteil zur dantesken Fußballplatz-Atmosphäre im Abgeordnetenhaus sehr geordnet und teilweise vor halbleeren Rängen ablief – das Präsidium hatte Zwischenrufe und Gemütsbekundungen verboten –, löste die Polizei vor dem Gebäude in Brasilia eine Solidaritätskundgebung für der Staatschefin auf. Ein paar Blocks weiter feierten die Gegner der Präsidentin ihren Erfolg.

Amtsenthebung hat Brasilien polarisiert

Die Amtsenthebung, die sich im März nach dem Bruch der Regierungskoalition abzeichnete, hat Brasilien polarisiert und die Wirtschaftskrise noch verschärft. Brasiliens Wirtschaft schrumpfte im Vorjahr um 3,8 Prozent, die Arbeitslosigkeit kletterte auf 9,5 Prozent, die monatlichen Durchschnittsgehälter fielen innerhalb eines Jahres um 7,5 Prozent, jeder zehnte der 40 Millionen Brasilianer, die unter der PT den Aufstieg in die Mittelschicht schafften, ist wieder unter die Armutsgrenze gefallen. Durch die Krise haben die ultrakonservativen Kräfte Aufschwung bekommen, und schon in den letzten Monaten machten sie zahlreiche Reformen der PT-Regierungen zunichte.

Vizepräsident Temer obliegt es nun, eine Übergangsregierung aufzustellen. Er will zehn Ministerien streichen; Schlüsselfigur soll der liberale ehemalige Zentralbankchef Henrique Meirelles werden. Unklar ist, ob ihn die wichtigste Oppositonspartei, die PSDB, unterstützt und endlich die erhoffte Stabilität einkehrt.

Die PSDB hat die letzte Wahl wegen illegaler Wahlkampffinanzierung angefochten – ein Urteil steht noch aus. Würde das Gericht dem Antrag stattgeben, wäre auch Temers Mandat anulliert und Neuwahlen nötig. Viele Analysten sehen darin den einzigen Ausweg aus dem Labyrinth und zumindest eine Chance auf eine inhaltliche, programmatische Erneuerung der diskreditierten Parteien.

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