Hotspot Industrieregion Corona-Infektionen in Polen steigen sprunghaft an

Katowice/Warschau · Hotspot Oberschlesien: Die Zahl der Corona-Infektionen in Polen ist sprunghaft angestiegen. Hunderte Grubenarbeiter sind erkrankt. Die Pandemie könnte Ende des Bergbaus einläuten.

Polen schien bislang gut durch die Corona-Krise zu kommen. Rund 25 000 Covid-19-Infektionen waren nach drei Monaten Pandemie eine überschaubare Zahl. Die Behörden hoben zuletzt sogar die Maskenpflicht auf. Doch am Montagmorgen erwachten viele Polen in einer schlagartig wieder brüchig gewordenen Wirklichkeit. „So schlimm war es noch nie“, titelte die „Gazeta Wyborcza“. Und das belegte die offizielle Statistik eindrücklich. Allein über das Wochenende kamen 1151 Corona-Infektionen im Land hinzu. Die gute Nachricht lautete: Es gibt mit der Region Oberschlesien einen klar identifizierten Hotspot.

So war der größte Teil der neuesten Fälle auf eine Ansteckungswelle in dem südpolnischen Kohlebergwerk Zofiowka zurückzuführen. Innerhalb kürzester Zeit infizierte sich dort jeder Dritte der 3500 Kumpel, die das Virus dann an Angehörige und Freunde übertrugen. Und die Zeche ist kein Einzelfall. Inzwischen ist jeder fünfte Corona-Infizierte in Polen ein Grubenarbeiter aus dem oberschlesischen Kohlenpott, einem Bergbau- und Industrierevier, in dem die großen Städte wie Katowice, Chorzow, Bytom und Zabrze fast ohne erkennbare Grenzen ineinander übergehen.

Hygienepläne werden unter Hochdruck ausgearbeitet

Polnische Medien verglichen die Metropolregion mit ihren 4,5 Millionen Menschen bereits mit dem chinesischen Wuhan und spekulierten über eine Abriegelung. Die Regierung in Warschau wies das bislang vehement zurück. Es reiche aus, die Virusbekämpfung in den Gruben zu verbessern. Nach ersten Masseninfektionen in der Region Ende April arbeiteten die Betreiber unter Hochdruck Hygienepläne aus. Die Belegschaften wurden halbiert und in Wechselschichten eingesetzt. Am Montag jedoch musste der für den Bergbau zuständige Vizepremier Jacek Sasin einräumen, dass die Maßnahmen nicht gegriffen hätten. „Von Dienstag an wird die Arbeit in zwölf (von rund 30) oberschlesischen Zechen für drei Wochen ruhen.“

Doch ob das reicht, um die Förderräder Ende des Monats wieder in Schwung zu setzen, ist zweifelhaft. Denn das Ansteckungsrisiko in den engen Stollen, den Waschkauen und beim Ein- und Ausfahren, wenn sich Dutzende Menschen in einer Transportkabine drängen, bleibt auch bei reduzierten Schichten hoch. Eine Lösung wäre die dauerhafte Schließung aller Gruben. Dem stehen wirtschaftliche, aber auch politische Interessen in der teilweise staatlichen Kohleindustrie entgegen. Im Kern geht es um die Frage, ob das Herz des Reviers, die Kohleförderung, nach einer großen Vergangenheit überhaupt noch eine Zukunft hat.

Seit Jahren befindet sich die gesamte Branche mit ihren 80 000 Beschäftigten im Niedergang, obwohl Polen noch immer rund drei Viertel seines Energiebedarfs aus Kohle deckt. Allerdings ist die Produktion zu teuer. Inzwischen importiert das Land sogar Kohle vom ungeliebten Nachbarn Russland. Vor allem aber wächst der Druck, die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen. Smog ist in vielen Regionen Polens ein chronisches Problem, mit dem sich die Menschen nicht länger abfinden wollen. 33 der 50 schmutzigsten Städte Europas liegen in Polen.

Das kann auch die nationalkonservative PiS-Regierung nicht ignorieren, die gern an der traditionsreichen heimischen Kohle festhalten möchte. Nach dem geltenden Energie- und Klimapolitischen Entwicklungsplan will sie den Anteil des „schwarzen Goldes“ am polnischen Energiemix im laufenden Jahrzehnt maximal auf 60 Prozent verringern. Das dürfte allerdings bei weitem nicht ausreichen, wenn die EU-Kommission sich mit ihrem „Green Deal“ durchsetzen sollte, der unter anderem CO2-Neutralität bis zur Jahrhundertmitte vorsieht.

Vizepremier Sasin versicherte zuletzt wiederholt, die Corona-Pandemie dürfe kein Vorwand sein, Gruben früher zu schließen als geplant. Allerdings stehen politische Bekenntnisse dieser Art derzeit unter Kampagnenvorbehalt. Die wegen der Corona-Krise verschobene Präsidentenwahl findet am 28. Juni statt. Alle Parteien sind bereits im Wahlkampfmodus. Und klar ist auch: Zehntausende Bergleute mit ihren Familien, mit denen das Herz einer Metropolregion schlägt, sind eine extrem wichtige Wählergruppe.

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