Interview mit dem ungarischen Botschafter Peter Györkös: „Es geht um eine Völkerwanderung“

Bonn · "Blauäugig, naiv und romantisch“ sind nach Ansicht des ungarischen Botschafters in Deutschland, Peter Györkös, die Europäer im Umgang mit Migranten. Mit Györkös sprach Ulrich Lüke unter anderem über den Grenzzaun und die Weigerung seiner Regierung, Flüchtlinge aufzunehmen.

 Geschlossene Grenze: Ein Flüchtling schaut am 15.09.2015 durch den Zaun von Serbien nach Ungarn. FOTO: DPA

Geschlossene Grenze: Ein Flüchtling schaut am 15.09.2015 durch den Zaun von Serbien nach Ungarn. FOTO: DPA

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Herr Botschafter, die Ungarn haben im Westen Europas derzeit einen schweren Stand, weil sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Warum ist das so?
Peter Györkös: Sicherlich ist derzeit unser Ruf nicht so positiv, wie wir uns das wünschen. Aber das ist kein Schönheitswettbewerb. Es geht um inhaltliche Positionen. Und es stimmt nicht, dass wir gar keine Flüchtlinge aufnehmen.

Sondern?
Györkös: Wir haben eine ganz neue Situation. Wir sind Zeugnis einer Völkerwanderung. Momentan aus Syrien über die Türkei und die West-Balkan-Route. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass auch andere Wege gesucht werden. In dieser Situation müssen wir als erstes die europäischen Außengrenzen schützen. Sehr effektiv. Solange dies nicht geschieht, ist jede Diskussion über eine Verteilung von Flüchtlingen in Europa eine weitere Einladung.

Wollen Sie nun Flüchtlinge aufnehmen oder nicht?
Györkös: Es ist absolut wichtig, dass die Mitgliedstaaten das Recht behalten, darüber freiwillig zu entscheiden. Das kann uns nicht irgendjemand aus dem Kommissionsgebäude in Brüssel vorschreiben. Wir haben im Frühjahr dieses Prinzip der Freiwilligkeit auf Gipfelebene festgeschrieben. Und im Herbst ist dieser Konsens ignoriert worden.

Das hat Ungarn verärgert?
Györkös: Ja. Wir sind zufrieden, dass der letzte Gipfel zu diesem Grundprinzip zurückgekehrt ist.

Wie behandelt Ihr Land heute Flüchtlinge?
Györkös: Wir halten uns ganz strikt an das europäische Recht, an das, was vereinbart wurde. Diejenigen, die zu uns kommen, waren in aller Regel schon auf EU-Gebiet. Oder sie kommen zum Beispiel aus Serbien. Und Serbien ist ein sicherer Drittstaat.

Finden Sie das eine faire Lastenverteilung?
Györkös: Ungarn sind da, was die Lastenverteilung angeht, unter den Besten. Unsere Soldaten sind überall, wo Krisen auftreten: in Afghanistan, im Irak, überall. Und unsere größte Solidaritätsleistung war, dass wir als erster EU-Staat effektiv die Außengrenze geschützt haben. Die Außengrenze der Schengenzone ist ja gleichzeitig die Außengrenze von Deutschland und von vielen anderen Mitgliedstaaten.

Sie sind der Meinung, dass es sich gar nicht um eine klassische Flüchtlingsbewegung handelt. Es geht also gar nicht um Flucht, sondern um eine Völkerwanderung?
Györkös: Ganz genau. Die Fakten bestätigen das. Als wir im Sommer begannen, den Zaun an unserer grünen Außengrenze zu bauen, waren mehr als 60 Prozent der in Ungarn ankommenden Migranten nicht Syrer. Die kamen von Marokko bis Bangladesch, eine ganz breites Spektrum. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans – gewiss kein Freund aktueller ungarischer Regierungspolitik – hat im Januar gesagt, mehr als 60 Prozent der Migranten seien Wirtschaftsflüchtlinge.

Was ist mit den aus Ihrer Sicht echten Flüchtlingen?
Györkös: Denen schaden wir am meisten, wenn wir an dieser Situation nichts ändern, wenn wir das Geschäftsmodell der Schlepper nicht zerstören. Deshalb kann es nicht die bessere Lösung sein, alle, die kommen, gerecht zu verteilen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Flüchtlinge in der Nähe der Krisenregionen halten und ihnen dort helfen.

Und was geschieht mit denen, die zu Recht Asyl beantragen?
Györkös: Selbst wenn wir nur die nach Europa ließen, die berechtigt Asyl begehren, wären es zu viele. Auch von ihnen wird es in den nächsten Jahren tragischerweise Millionen geben.

Das würde Europa überfordern?
Györkös: Davon gehe ich aus. Wir fokussieren uns im Moment auf Syrien. Aber Kriege gibt es auch woanders. Und selbst wenn wir uns darauf einigen würden, sie aufzunehmen, würden die Aufnahme und die Integration äußerst schwierig werden. Wir kennen kein erfolgreiches Integrationsmodell. Und unsere Bevölkerung hatte schon vor Köln Befürchtungen. Jetzt nach Köln hat sie Angst. Eine nicht freiwillige Verteilung von Flüchtlingen würde also bei uns zu ganz großen Problemen führen.

Wollen Flüchtlingen überhaupt nach Ungarn?
Györkös: Das ist auch so ein Problem. Sie wollen sich den Staat in Europa selbst aussuchen. Sie wollen nach Deutschland. Und selbst da wollen sie in bestimmte Bundesländer nicht.

Sie sprechen von der Angst Ihrer Bevölkerung. Ist das eine Angst vor dem Islam, vor Überfremdung?
Györkös: In Ungarn gibt es viele Zehntausend Menschen, die entweder Migranten waren oder einen Migrationshintergrund haben. Ungarn ist gewissermaßen ein Schmelztiegel. Aber diese Menschen kamen aus der Region. Wir haben während des Balkankrieges übrigens auch Muslime – aus Bosnien – aufgenommen. Aber durch die 150-jährige türkische Herrschaft haben wir mit Muslimen und dem Islam – den wir voll respektieren, dort wo er zu Hause ist – keine unbedingt positive historische Erfahrung gemacht. Das ist nicht spurlos verschwunden.

Und heute?
Györkös: Der Massenandrang an unseren Grenzen, das war schon ein sehr aggressiver und demonstrativer Auftritt der Demonstranten. Sie wollten das Recht nicht respektieren – sie wollten nur nach Deutschland. 80 Prozent übrigens junge kräftige Männer. Dann kamen die Ereignisse von Paris und Köln. Und jetzt sagt unsere Bevölkerung: Es muss unsere eigene Entscheidung sein, wen wir aufnehmen.

Das Land, das vor 25 Jahren den Stacheldraht als erstes durchschnitt, hat ihn jetzt wieder aufgebaut...
Györkös: Da gibt es einen fundamentalen Unterschied. Ich war damals der letzte DDR-Referent im ungarischen Außenministerium, ich hab damals diese diplomatische Note mitentworfen. Der Eiserne Vorhang wurde gegen die Europäer errichtet, der heutige Zaun schützt die EU-Außengrenze. Das haben wir für Europa, auch für die Deutschen getan. Dieser Zaun, bedenken Sie das bitte, steht zum Beispiel zwischen Ungarn und Serbien und da leben Hunderttausende Ungarn. Das war eine äußerst schwierige Entscheidung. Wir waren also die ersten, die gegen das Geschäftsmodell der Schleuser vorgegangen sind. Keine Frage: Nach der Ankündigung des ungarischen Ministerpräsidenten am 3. September, dass die grüne Grenze ab 15. September geschlossen wird, hatten die Schleuser ein Interesse daran hatten, ein Chaos am 4. September in Budapest zu inszenieren.

Hat die Bundeskanzlerin naiv gehandelt, als sie die Grenze öffnete?
Györkös: Das würde ich nie sagen. Heute hat jedenfalls Priorität, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.

Gibt es in Deutschland eine zu romantische Vorstellung von der Möglichkeit der Integration?
Györkös: Es steht den Deutschen völlig frei zu handeln, wie sie wollen. Wenn die Deutschen die Entscheidung treffen, Millionen aufzunehmen, ist das ihre Angelegenheit. Davor ziehe ich den Hut, chapeau!

Wird Ungarn jetzt Flüchtlinge aufnehmen?
Györkös: Nein. Wir klagen ja gerade in Luxemburg wegen der Missachtung des Beschlusses der Freiwilligkeit der Aufnahme von Flüchtlingen. Kontrolle der Außengrenzen, Bekämpfung der Fluchtursachen, Humanitäre Hilfe – und dann freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen. Das ist die Reihenfolge. Ehe wir über den vierten Schritt reden, muss der erste getan sein. Das ist noch nicht der Fall.

Ist das Flüchtlingsproblem nicht eine globale Aufgabe?
Györkös: Oh ja. Aber alle anderen großen Staaten außerhalb Europas sind doch Festungen geworden. Die USA, Kanada, China, Russland, Japan, und nicht zu vergessen die reichen arabischen Staaten. Manche bayerische Landkreise nehmen mehr Flüchtlinge auf als Großmächte.

Und wir Europäer?
Györkös: Nur wir sind so blauäugig, naiv und romantisch.

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