GA-Interview mit Michail Gorbatschow „Ich glaube an einen modernen Sozialismus“

Der letzte Staatschef der Sowjetunion spricht über Mauerfall und Mittelstreckenraketen, die Beziehungen zu den USA – und Wladimir Putin. Er glaubt weiterhin an eine moderne Version des Sozialismus und ist überzeugt: Die Schlüsselwerte Gerechtigkeit und Solidarität werden nirgendwohin verschwinden.

 Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sitzt in seinem Büro. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat der ehemalige Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zur Abschaffung von Atomwaffen aufgerufen.

Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sitzt in seinem Büro. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat der ehemalige Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zur Abschaffung von Atomwaffen aufgerufen.

Foto: dpa/-

Michail Gorbatschow war zur Wendezeit Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Er verfolgte seine Politik der Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) und erhielt 1990 erhielt den Friedensnobelpreis. Das Interview führte unser Korrespondent Stefan Scholl.

Herr Gorbatschow, manche Deutschen sagen, wenn es den Friedensnobelpreis nicht gäbe, hätte man ihn für Sie erfinden müssen. In Russland aber wirft man Ihnen oft vor, sie hätten 1989 die DDR an Westdeutschland und später Osteuropa an die Nato verschenkt.

Michail Gorbatschow: Um mich in solchen Fällen nicht in langen Erklärungen zu verlieren, stelle ich eine einfache Gegenfrage: An wen verschenkt? Polen an die Polen, Ungarn an die Ungarn und die Tschechoslowakei an Tschechen und Slowaken…

Und die DDR an die Deutschen?

Gorbatschow: Die Formel „die DDR verschenkt“ klingt noch seltsamer. In der DDR gingen 1989 Hunderttausende auf die Straße, für die Einheit ihrer Nation. Im März 1990 stimmte die Mehrheit der DDR-Bürger in freien Wahlen für die Wiedervereinigung. Der Wille eines Volkes erfüllte sich, das nach dem Untergang des Hitler-Regimes bewiesen hat, wie entschlossen es den Weg zur Demokratie verfolgt. Von welchen „Geschenken“ kann da die Rede sein?

Man wirft Ihnen auch vor, Sie hätten dabei Russland vergessen.

Gorbatschow: Unsere guten Beziehungen mit dem vereinigten Deutschland haben unserem Land unbestreitbare Vorteile gebracht, politisch und wirtschaftlich. In Russland arbeiten heute fünftausend deutsche Unternehmen. Wenn das Verhältnis jetzt schlechter ist, als wir es uns wünschen, hat das andere Gründe. Ich bin sicher, die naturgemäß guten Beziehungen zwischen uns kehren zurück.

Der Mauerfall, die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges wären ohne Sie unmöglich gewesen. Welche Philosophie, welche Idee stand damals hinter Ihrer Politik?

Gorbatschow: Vorher hingen unsere Verbündeten, die Volksdemokratien in Osteuropa, von der Sowjetunion ab. Sie erhielten von der UdSSR Wirtschaftshilfe, besaßen umgekehrt keine volle Souveränität. Im Warschauer Pakt hatte die sowjetische Führung das letzte Wort. „Unerwünschte“ Massenbewegungen wie die Ereignisse in Ungarn 1956 oder den „Prager Frühling“ 1968, unterdrückte die Sowjetarmee mit Gewalt – unter Hinzuziehung anderer Streitkräfte des Paktes . Dann kam Mitte der 80er Jahre in der UdSSR eine neue Führung an die Macht, man wählte mich zum Generalsekretär, also de facto zum Staatschef. Wir analysierten die Lage im Land ernsthaft und ehrlich, das Ergebnis lautete kurz gefasst: „So kann es nicht weitergehen.“

Und wie ging es weiter?

Gorbatschow: Wir beschlossen in der UdSSR grundlegende Reformen, Perestroika (Umbau) und Glasnost (Transparenz), strebten echte Demokratie an. Solche Reformen konnten nur freie Menschen verwirklichen. Darum sahen wir es als Schlüsselaufgabe, unseren Bürgern maximale Freiheit zu geben. Konnten wir dieselben Freiheiten den Bürgern unserer sozialistischen Bündnisstaaten verweigern? Auf keinen Fall.

Manches, was Sie damals erreicht haben, ist wieder verloren gegangen. 1987 unterzeichneten Sie mit Ronald Reagan den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen. 2019 sind beide Seiten ausgestiegen. Wer trägt die Verantwortung?

Gorbatschow: Erinnern wir uns, wer als erster seinen Austritt erklärt hat. Das war der Präsident der USA. Vorher waren sich beide Seiten über 30 Jahren einig, dass dieser Vertrag eine der wichtigsten Grundlagen der strategischen Stabilität ist. Jetzt wurde er zunichte gemacht, so wie vorher der ABM-Vertrag über die Begrenzung der Antiraketensysteme.

Weshalb?

Gorbatschow: Ich glaube, da will jemand alle Verpflichtungen loswerden. Das ist zur neuen Generallinie der amerikanischen Politik geworden. Man hätte technische Meinungsverschiedenheiten zur Einhaltung einzelner Punkte des Vertrags durch Verhandlungen regeln können, wie das früher schon mehrfach gelang. Jetzt aber muss man verhandeln, damit das Ende des INF-Vertrags nicht die Gefahr eines großen Krieges verschärft. Denn diese Raketen sind wegen ihrer minimalen Flugzeit die größten Destabilisierungsfaktoren.

Sie wollten mit Ihrer Perestroika den Sowjetsozialismus nicht zerstören, sondern reformieren. Glauben Sie noch an demokratischen Sozialismus?

Gorbatschow: Unser Volk, jedenfalls sein Großteil, war von den Idealen einer gerechten Gesellschaft überzeugt, den Idealen des Sozialismus. Auch ich glaubte an sie. Und ich glaube weiter daran, in der modernen Version. Ich sehe die Welt in vielem aus der sozialdemokratischen Perspektive. Die Schlüsselwerte Gerechtigkeit und Solidarität werden nirgendwohin verschwinden.

Brauchen Russland, seine Politik und seine Wirtschaft eine neue Perestroika?

Gorbatschow: Sicher geht es nicht um ein „Remake der Perestroika“. Wir haben damals das Wichtigste getan, den Prozess so weit vorangetrieben, dass niemand mehr die Uhren zurückstellen kann. Auch wer die Perestroika heute kritisiert, genießt die Rechte und Freiheiten, die sie ihm gegeben hat. Veränderungen sind natürlich weiter nötig, im Wirtschafts-, im Rechts- und im Wahlsystem. Allein mit Stabilität kommt man nicht weit. Erst vor ein paar Tagen ergab die Umfrage eines renommierten Meinungsforschungszentrums, dass fast 60 Prozent der Bürger für radikale Veränderungen sind. 53 Prozent glauben, solche Veränderungen seien nur möglich, wenn sich das politische System grundlegend ändert. Vor allem gilt es, Mittel zu finden, das Verwaltungssystem zu modernisieren und das politische System zu demokratisieren.

Was halten Sie von der liberalen Opposition in Russland? Und was von der Protestbewegung dieses Sommers?

Gorbatschow: Wieso reden Sie nur von der liberalen Opposition? Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist für jede demokratische Gesellschaft wesentlich. Die Menschen haben ein Recht auf ihre Meinung, ihre Position. Die Kundgebungen in Moskau waren ein Signal für die Mängel im Wahlsystem. Und eine erdrückende Mehrheit der Demonstranten hat nicht gegen Gesetz und öffentliche Ordnung verstoßen. Man sollte keine Feinde aus ihnen machen.

Der russische Präsident Wladimir Putin sieht das offenbar anders. Wie bewerten Sie ihn?

Gorbatschow: Als Wladimir Putin die Macht übernahm, herrschte Chaos im Land, ob in Politik, Wirtschaft, Armee oder der Sozialsphäre. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er unter diesen Umständen ausschließlich nach einem Lehrbuch der Demokratie hätte handeln können. Und er musste handeln, ohne Verzögerung. Einige Entscheidungen riefen Kritik hervor, aber es gelang, die Lage zu stabilisieren. Die Menschen bekamen das Gefühl, dann die Gewissheit, dass sich ihr Leben zum Besseren verändert.

Ist weitere Veränderung unter Putin möglich?

Gorbatschow: Wenn es das Ziel der Staatsmacht ist, Bedingungen für das Entstehen einer starken modernen Demokratie zu schaffen, bin ich bereit, den Präsidenten zu unterstützen, auch wenn ich mit einzelnen seiner Maßnahmen nicht einverstanden bin. Er hat selbst gesagt, wir bräuchten konkurrierende Programme und eine Opposition, die fähig ist, bei Wahlen als reale politische Kraft mit starken Kandidaten anzutreten. Die Hauptfrage lautet jetzt, wie man den politischen Prozessen Dynamik verleihen kann, ohne dabei Destabilisierung und Chaos zuzulassen. Der Präsident, die politischen Parteien und die ganze Gesellschaft sollten darüber nachdenken.

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