Interview mit Schanna Nemzowa "Ich will nicht nach Putins Regeln leben"

Schanna Nemzowa, Tochter des ermordeten russischen Oppositionsführers Boris Nemzow, lebt jetzt in Bonn, weil sie sich in Moskau bedroht fühlte. Von hier aus betreibt sie die Aufklärung des Falls. Eine Stiftung soll an ihren Vater erinnern.

Die Ermordung ihres Vater machte weltweit Schlagzeilen: Boris Nemzow war der Führer der Opposition gegen Kreml-Chef Wladimir Putin. Nemzows Tochter Schanna kämpft seit Monaten darum, dass die Auftraggeber des Mordes ermittelt werden - bislang vergeblich. Mit Schanna Nemzowa sprach Kai Pfundt.

Nachdem Ihr Vater im Februar in Moskau ermordet wurde, wollten Sie ursprünglich in Russland bleiben und als Journalistin weiterarbeiten. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert und sind nach Deutschland ausgewandert?
Schanna Nemzowa: Ich hatte ernsthafte Sorgen um meine persönliche Sicherheit. Einige Zeit nach dem Mord an meinem Vater wurde ein langjähriger Freund von ihm wahrscheinlich vergiftet. Er befand sich in Lebensgefahr und musste ins Krankenhaus. In Russland kann einfach jeder zur Zielscheibe werden. Außerdem wurde ich persönlich bedroht, etwa in sozialen Medien. Solche Drohungen muss man ernst nehmen in Russland.

Haben Sie sich deswegen an die Behörden gewandt?
Nemzowa: Ja, aber es ist nichts passiert. Außerdem gab es Hinweise, dass ich in meinem Job als Fernsehjournalistin Probleme bekommen könnte, weil ich immer wieder auf eine ordnungsgemäße Untersuchung des Mordes an meinem Vater gedrängt habe. Wenn man heute in Russland auf die gesetzmäßige Aufklärung eines Mordes drängt, ist das ein Politikum.

Sie standen beruflich unter Druck?
Nemzowa: Ja. Ich weiß, dass der Kreml beim Management meines damaligen Senders auf meine Entlassung gedrängt hat. Der Sender hat zu mir gehalten, wofür ich dankbar bin. Aber mir war klar, dass das auf Dauer nicht so bleiben würde. Ich musste mich also entscheiden: Entweder weiter öffentlich darauf bestehen, dass die Auftraggeber des Mordes an meinem Vater gesucht werden und Russland verlassen. Oder schweigen und in Russland bleiben.

Sie haben sich entschieden.
Nemzowa: Ja. Ich kann in dieser Frage keine Kompromisse machen. Ich will nicht nach Putins Regeln leben.

Haben Sie Hoffnung, dass die Hintermänner des Mordes an Ihrem Vater belangt werden?
Nemzowa: Wenn es um einen politischen Mord geht in Russland, muss es einen politischen Willen geben, ihn aufzuklären. Recht und Gesetz spielen da keine Rolle. Aber es gibt keine Absicht der Politik, den Mord aufzuklären. Das war vom ersten Augenblick an klar.

Aber die Männer, die Ihren Vater ermordeten, sind doch in Haft?
Nemzowa: Richtig. Aber das Untersuchungskomitee macht keinerlei Anstalten, nach den Auftraggebern zu suchen.

Wo sitzen denn Ihrer Meinung nach die Auftraggeber? Im Kreml?
Nemzowa: Ich habe öffentlich gesagt: Präsident Putin trägt die politische Verantwortung für den Mord. Mein Vater war schließlich der Führer der Opposition. Ich sage aber nicht, dass Putin den Auftrag persönlich gegeben hat.

Was zum Beispiel der Grünen-Politiker Werner Schulz, ein Freund Ihres Vaters, behauptet.
Nemzowa: Das ist eine Mutmaßung. Ich halte mich aber an Fakten, nicht an Spekulationen. Die Fakten sind, dass die Täter, die in Haft sitzen, zum Tatzeitpunkt in einer militärischen Einheit der tschetschenischen Regierung dienten. Es gibt Belege, dass die Organisatoren des Mordes Beziehungen zum tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow hatten. Aber die Ermittler weigern sich, in Tschetschenien nachzuforschen und Präsident Kadyrow zu befragen.

Wie ist die Reaktion auf Ihre Bemühungen, die Untersuchung voranzutreiben?
Nemzowa: Das Ermittlungskomitee blockiert alles. Der Mord fand in nur zweihundert Meter Entfernung von der Kremlmauer statt. Aber glauben Sie, dass es Bilder von den zahlreichen Videokameras vor Ort aus der Mordnacht gibt? Der Geheimdienst behauptet, alle Kameras seien Richtung Kreml ausgerichtet gewesen und deshalb gebe es keine Videoaufnahmen. Ist das glaubwürdig?

Warum sind Sie nach Deutschland gegangen, hier nach Bonn?
Nemzowa: Ich habe bei der Naumann-Stiftung eine Rede zum Thema Freiheit gehalten, ohne dass ich Pläne gehabt hätte, in Deutschland zu bleiben. Aber dann habe ich hier, bei der Deutschen Welle, einen Job als Journalistin in der Russland-Abteilung gefunden. Es war Zufall.

Glauben Sie, dass Sie irgendwann nach Russland zurückkehren können?
Nemzowa: Wenn in Russland wieder die verfassungsmäßige Ordnung herrscht und nicht das Recht von Präsident Putin. Aber es sieht nicht so aus, als würde Russland sich in diese Richtung entwickeln. Eher im Gegenteil.

Wie ist die Situation für die Opposition in Russland?
Nemzowa: Schlimm. Sie können zwar als Oppositioneller arbeiten, aber Sie haben keinerlei Zugang zur öffentlichen Meinung. Alle Medien werden kontrolliert. Es gibt Wahlen, ja, aber sie sind eine reine Formalität. Aber am Schlimmsten: Wenn Sie als Oppositioneller arbeiten, können Sie Ihren Job verlieren, sie bringen sich und ihre Familie in Gefahr. Deshalb gibt es kaum eine sichtbare Opposition.

Glauben Sie, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland nach der Einverleibung der Krim Wirkung entfalten?
Nemzowa: Ganz bestimmt. Zuerst ist der Wert des Rubel eingebrochen. Außerdem sind weniger Unternehmen bereit, in Russland zu investieren. Die Preise sind stark gestiegen.

Aber sinkt deswegen die Zustimmung im Volk zu Putin?
Nemzowa: Nicht unmittelbar. Es gibt keine ausgewogene Berichterstattung zu den Sanktionen, die Medien sagen, der Westen will Russland verarmen. Das Fernsehen verbreitet Durchhalteparolen. Deshalb gibt es keinen Volksaufstand gegen Putin.

Sie wollen eine Stiftung einrichten, die den Namen Ihres Vaters tragen soll...
Nemzowa: Ja, ich bin auf der Zielgeraden. Sitz der Boris-Nemzow-Stiftung für Freiheit wird Bonn sein. Bonn ist ein sehr guter Platz für diese Art von Stiftung, weil es so international ist. Es ist die Stadt, in der die Demokratie in Deutschland aufbaut worden ist. Außerdem hat Bonn eine lange akademische Tradition, die Universität gehört zu den weltweit führenden.

Wollen Sie mit der Bonner Uni zusammenarbeiten?
Nemzowa: Eines der langfristigen Ziele der Stiftung wird die Errichtung einer Boris-Nemzow-Akademie für begabte Russen sein, die sich für Wirtschaft, Politik und Recht interessieren. Da würde sich eine Zusammenarbeit mit der Universität anbieten.

Welche Ziele hat die Stiftung außerdem?
Nemzowa: Mein Vater war ein Verfechter des freien Wortes. Ich möchte also einen Preis stiften und vergeben an einen Russen oder eine dauerhaft in Russland lebende Person, die sich besonders für die demokratische Entwicklung und die Redefreiheit einsetzt. Der Preis soll jedes Jahr am 12. Juni vergeben werden, dem Tag der russischen Unabhängigkeit. Außerdem möchte ich ein deutsch-russisches Diskussionsforum organisieren. Die Stiftung soll eine Denkfabrik für die deutsch-russischen Beziehungen werden.

Große Pläne. Wie wollen Sie das alles finanzieren?
Nemzowa: Ich befinde mich in Gesprächen mit einer Reihe von Sponsoren. Ich glaube, das Projekt spricht viele Menschen an. Und ich bringe selbst das Preisgeld von 250.000 Euro ein, das ich bei der Verleihung des Lech-Walesa-Preises in diesem Jahr erhalten habe.

Nochmal zur Politik. Der Westen braucht Russland auf vielen Feldern als Partner, zum Beispiel um den syrischen Bürgerkrieg zu beenden und damit die Flüchtlingskrise zu bewältigen...
Nemzowa: Da haben Sie, glaube ich, unrecht. Putin handelt in Syrien völlig unabhängig. Vielleicht hat es die Hoffnung auf Zusammenarbeit gegeben, aber Putin möchte lieber als Führer einer unabhängigen Supermacht handeln.

Das russische Volk scheint das zu honorieren, die Zustimmung zum Syrien-Einsatz ist überwältigend.
Nemzowa: Genau wie die Staatspropaganda. Die Menschen haben nicht die Möglichkeit, die Konsequenzen der Intervention zu überschauen. Außerdem können Stimmungen schnell kippen, kein autoritäres Regime kann sich auf sie verlassen. Aber richtig ist: Putins aggressive Außenpolitik dient seinen innenpolitischen Zielen. Und sein erstes Ziel ist: der dauerhafte Machterhalt.

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