Johnson verschiebt Termin Hunderttausend Demonstranten in London fordern Brexit-Stopp

London · Die britische Regierung hat die EU um Verschiebung des Brexit-Termins gebeten. Dabei hofft Boris Johnson eigentlich weiter auf den 31. Oktober. Am Samstag forderten Hunderttausende Demonstranten in London einen Brexit-Stopp.

 Protest in London: Brexit-Gegner demonstrieren am Samstag für ein zweites Referendum.

Protest in London: Brexit-Gegner demonstrieren am Samstag für ein zweites Referendum.

Foto: AP/Matt Dunham

Noch vor wenigen Wochen bekräftigte der britische Premierminister in typisch exzentrischer Johnson-Manier, er würde lieber tot im Graben liegen, als in Brüssel um eine Verlängerung der Scheidungsfrist zu bitten. Am gestrigen Sonntag, so darf an dieser Stelle eingefügt werden, weilte Boris Johnson quicklebendig in der Downing Street Nummer zehn. Einen Aufschub des Brexit-Termins hat er dennoch – wie vom Gesetz verlangt – am Samstagabend beantragt. Ausgerechnet, hatte er den frustrierten Brexit-Wählern doch stets versprochen, diesen Weg keineswegs einschlagen zu wollen.

In dem Versuch, sich von der Anfrage zu distanzieren, schickte die Regierung gleich drei Briefe an EU-Ratspräsident Donald Tusk. Unter dem ersten, der komplett in Anführungszeichen gehalten ist, fehlen sowohl die Unterschrift sowie der Name des Premiers. Im zweiten Brief an „Dear Donald“ bezeichnete Johnson einen Aufschub als Fehler. Eine weitere Verlängerung würde „die Interessen des Königreichs und unserer EU-Partner und die Beziehung zwischen uns beschädigen“, so der Regierungschef, der dieses Mal auch handschriftlich unterzeichnet hat. Um in keine Schwierigkeiten mit dem Gesetz zu geraten und mögliche Missverständnisse auszuräumen, verfasste dann noch der britische EU-Botschafter Tim Barrow einen Begleitbrief, in dem klargestellt wird, dass das erste Schreiben nur abgeschickt worden sei, um sich an die Gesetzesvorgaben zu halten.

„Wie ein verzogener Rotzbengel“

„Johnson verhält sich ein bisschen wie ein verzogener Rotzbengel“, schimpfte der Finanzminister im Schattenkabinett der oppositionellen Labour-Partei, John McDonnell über das auf „Letter-Gate“ getaufte Brief-Chaos.

Die britische Regierung war zu dem Schritt gezwungen worden, nachdem Johnson am Samstag eine Niederlage im Unterhaus einstecken musste. Dabei sollte der sogenannte „Supersamstag“ eigentlich in die Geschichte des Königreichs eingehen – und Johnson gleich mit als jener Premier, der endlich den zwischen London und Brüssel ausgehandelten Deal durch das Parlament und damit den EU-Austritt über die Ziellinie bringt. Am Ende aber entwickelte sich der als historisch angekündigte Tag zu einer weiteren Schleife in der endlos scheinenden Brexit-Saga.

Zur Abstimmung über das Abkommen kam es nie. Stattdessen vertagten die Parlamentarier die Entscheidung, indem sie für einen Änderungsantrag stimmten, der besagt, dass das Parlament Johnsons Vertrag erst endgültig grünes Licht gibt, wenn das gesamte für den EU-Austritt nötige Gesetzespaket verabschiedet ist. Der konservative Abgeordnete Oliver Letwin hatte die Initiative eingebracht – und wurde deshalb im Anschluss von der europaskeptischen Presse an den Pranger gestellt. Es handele sich um einen „Akt von Sabotage“, wie Letwin die Kontrolle übernommen und Johnson „seinen Supersamstag verweigert“ habe, kritisierte etwa der „Telegraph“.

EU will sich erst einmal Zeit lassen

Dabei unterstützt der Tory-Politiker das Abkommen, und will bei der Abstimmung, die wahrscheinlich am Dienstag ist, dafür votieren. Antrieb für seine Intervention war die Sorge, dass das Gesetz noch scheitern und am 31. Oktober doch ein ungeordneter Brexit ohne Deal drohen könnte. Um das Vertrauen in die Regierung, selbst in den eigenen konservativen Reihen, steht es offenbar nicht allzu gut dieser Tage. Der Antrag ging 322 zu 306 durch.

Werden die übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten einer Verschiebung des Austrittstermins zustimmen? Und wenn ja, bis wann? Offenbar will man sich auf dem Kontinent mit einer Antwort erst einmal Zeit lassen. EU-Ratspräsident Tusk werde die übrigen 27 Mitgliedstaaten „in den nächsten Tagen“ konsultieren, sagte der Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier am Sonntag nach einem Treffen mit den EU-Botschaftern. Die Hoffnung dürfte bestehen, dass das Unterhaus dieser Tage doch noch den Deal billigen könnte. Damit wäre eine Fristverlängerung nicht notwendig. Falls das Europaparlament den Kompromiss ebenfalls rechtzeitig absegnet, könnte das Königreich tatsächlich an Halloween aus der EU scheiden.

Sollten die britischen Abgeordneten das Abkommen jedoch ablehnen – und bislang wagen Beobachter keine Prognosen angesichts des zerstrittenen Parlaments und des vermuteten knappen Ergebnisses – müssten die Staats- und Regierungschefs einstimmig beschließen, ob und für wie lange der Brexit aufgeschoben wird. Einigen sich die EU27 auf den 31. Januar? Während die Europaskeptiker, sowohl im britischen Parlament als auch in der tief gespaltenen Bevölkerung, das verhindern wollen, hoffen die Pro-Europäer, dass mit mehr Zeit ein zweites Referendum in Reichweite rückt.

Proteste auf den Straßen Londons

Während die Abgeordneten drinnen im ehrwürdigen Westminster-Palast debattierten, strömten deshalb am Samstag Hunderttausende Menschen auf die Straßen Londons. Sie trommelten und tanzten, forderten lautstark „Stop Brexit“ und pfiffen in Richtung der alten Gemäuer des Parlaments. „Wir haben das Gefühl, dies ist die letzte Chance, unsere Stimmen hörbar zu machen. Es steht so viel auf dem Spiel“, sagte Ellie, die mit ihrem spanischen Freund zur Demonstration gekommen war. In der Hand trug die 25-Jährige ein Schild, auf dem sie die „Leave-Lügner“ anprangerte, vorneweg den europaskeptischen Chef-Hardliner Boris Johnson, der ihrer Meinung nach allein seine Karriere im Blick hat.

Am Parliament Square, direkt vor der Statue des Kriegspremiers Winston Churchill, stand kurz vor der Haupt-Kundgebung derweil eine Britin in der Oktobersonne und wirkte beinahe verzweifelt. „Ja, die Leute sind genervt und viele wollen die Sache schnell über die Bühne bringen“, sagte die Protestlerin. „Aber es spielt keine Rolle, ob wir die Nase voll vom Brexit-Drama haben. Es geht um die langfristigen Folgen und welche Auswirkungen dieser absolut schreckliche Deal für unser Land haben würde.“ Mit dem Bus und Dutzenden Gleichgesinnten war sie bereits für die beiden Märsche im Frühjahr und vergangenen Jahr aus dem Südwesten Englands in die britische Hauptstadt gereist. „Wir müssen es einfach schaffen und den EU-Austritt stoppen.“ Sie klang nicht sehr optimistisch.

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