Bonner Kriegsbegeisterung "Hoffentlich ist's von kurzer Dauer"

Auch Bonn steht im Sommer 1914 ganz im Zeichen der Kriegsbegeisterung. Doch bald mehren sich die Anzeichen, dass die Blütezeit der Stadt ein jähes Ende gefunden hat. Anna Kohns, eine junge Frau aus Poppelsdorf, führte Tagebuch.

 Für die Bonner Zivilbevölkerung sind durchreisende Frontsoldaten eine wichtige Informationsquelle. Das Bild entstand 1916.

Für die Bonner Zivilbevölkerung sind durchreisende Frontsoldaten eine wichtige Informationsquelle. Das Bild entstand 1916.

Bloß nicht zu spät kommen. Viele junge Bonner kennen Anfang August 1914 nur diese eine Sorge. Weder geht es ihnen um eine neue Spielekonsole, noch lockt die Eintrittskarte zu einem Rockkonzert. Sie wollen in den Krieg.

Der ist erst wenige Stunden alt und, so sagen sich die meisten, darf unter keinen Umständen ohne sie stattfinden. Auch die beiden Zwillingsbrüder Robert und Karl Oelbermann befürchten, Entscheidendes zu verpassen.

"Über den Kaiserplatz, durch die Poppelsdorfer Allee eilen Robert und ich zur Ermekeilkaserne. Wir wollen uns beim Infanterie-Regiment 160 freiwillig melden", erinnert sich Karl später. Doch die Befürchtung, dass wegen zu großen Andrangs die Einstellung gestoppt ist, bestätigt sich: "Es ist dort nichts zu machen.

Das Tor ist von Kriegsfreiwilligen belagert", berichtet den beiden ein Schulkamerad, der ihnen schon unverrichteter Dinge entgegen kommt. Jetzt sehen die beiden 18-Jährigen nur noch eine einzige Chance: Durch die ganze Stadt hasten sie zur Kaserne der Husaren an der Rheindorfer Straße/Ecke Rosental, um dort ihr Glück zu versuchen.

Aber auch hier: Eine wartende Menschenmenge aus jungen Bonner Kriegsfreiwilligen. Dann aber, nach einigem Bitten, öffnet sich für die Brüder aus der Colmantstraße doch noch das Gittertor. Hacken knallen aneinander, Sporen klirren, und erstmals in ihrem Leben stehen die beiden auf einem Kasernenhof. Niemand ahnt, welcher Blutstrom sich in Kürze über Europa ergießen wird.

Soldaten in Formation, Extrablätter, in den Straßen Marschmusik und winkende Kinder. Die Stimmung in der Stadt ist aufgekratzt, doch nicht jeder teilt die Euphorie. Im Steinmetzgeschäft ihres Vaters an der Clemens-August-Straße in Poppelsdorf geht die 31 Jahre alte Anna Kohns in jenen Tagen ihrer Arbeit nach.

Angesichts der Ereignisse entschließt sie sich, von nun an Tagebuch zu führen. Auf der ersten Seite notiert sie am 1. August: "Die Stadt Bonn ist nicht mehr zu erkennen, sonst vornehme Ruhe und Frieden, und jetzt? Krieg! Überall, wohin man blickt, Feldgraue Uniformen.

Hoffentlich kommen alle bald zurück. Am Bahnhof kommt Zug für Zug, alle 10 Minuten, mit Militär, und die Begeisterung dabei! Wie viele von diesen mögen gesund nach Hause kommen? Artillerie, Kavallerie, Infanterie, alles mögliche fährt vorbei. Die Rheinbrücke ist bewacht. Niemand kommt ohne Paß durch. Auf dem Markt ist Etappenstation. Autos mit höheren Offizieren kommen und fahren weg. Auf dem städtischen Gymnasium ist ein Scheinwerfer aufgestellt. Alles ist verdreht und verkehrt. Alles anders. Hoffentlich ist's von kurzer Dauer."

Zunächst sieht es danach aus. Die Nachrichten vom Zurückdrängen der russischen Truppen aus Ostpreußen, für dessen notleidende Zivilbevölkerung auch in Bonn fleißig gesammelt wird, lösen Riesenjubel aus, wie der General-Anzeiger Ende August berichtet. In den Zeitungen erscheinen Aufrufe zu Wehrübungen und vaterländischen Vorträgen, die Handelskammer warnt vor Hamsterkäufen, die eine Verteuerung verursachen könnten.

Und Anna Kohns notiert: "Wenn es so weiter geht wie bisher, ist in einem guten Monat alles vorüber. Viele Siege können wir verzeichnen. Gott war mit uns."

Der Krieg ist fern und doch gegenwärtig. Denn Bonn ist Garnisonsstadt und nimmt zugleich als "Verschiebebahnhof" eine wichtige Funktion im Aufmarschgebiet ein. Reservisten und Bahnbeamte organisieren, dass von Bonn die Massen der Soldaten und Einheiten aus ganz Deutschland in Richtung Kampfgebiet "weitersortiert" werden.

Im Bonner Norden steht die Kavalleriekaserne der Bonner Husaren, bekannt durch ihren Schlachtruf "Lehm op!". In der Ermekeilkaserne liegt ein Bataillon des 9. Rheinisches Infanterieregiment 160. Es gehört zu jener 15. Infanteriedivision, die wenig später an allen Brennpunkten der Westfront und von 1916/17 auch an der Ostfront eingesetzt wird.

Am 8. August geht es für die Bonner Infanteristen von Luxemburg über Südbelgien und die Champagne an die Marne. Am 10. September ziehen sich die Einheiten befehlsgemäß auf eine Frontlinie in der Champagne zurück. Unter ihnen der 27-jährige Bonner Feldwebel-Leutnant August Macke, der am 24. September in einer Feldpostkarte an seine Lieben daheim um Schokolade, dicke Socken, Wäsche und Zigaretten bittet.

Zwei Tage später fällt der berühmte Maler im Angriff auf die französischen Stellungen. Zuhause wartet seine Frau Elisabeth (26) mit den kleinen Söhnen, dem vierjährigen Walter und dem eineinhalb Jahre alten Wolfgang. Mit ihrem Schicksal bleibt die Bonner Familie nicht lange allein. Von den rund 24.300 in Bonn, Bad Godesberg und Beuel rekrutierten Soldaten kehren knapp 3350 nicht zurück.

Wie ein Schock beenden die ersten Schreckensnachrichten von der zum Stillstand geratenen Front die gesellschaftliche Blütezeit Bonns. Oberbürgermeister Wilhelm Spiritus, seit 23 Jahren im Amt und zuletzt mit der kulturellen und wirtschaftlichen Prosperität der Stadt beschäftigt, mit Grundsteinlegungen, Bürgerfesten und Kaiserbesuchen, hat schlagartig einen bis dato nicht gekannten Notstand zu ordnen.

Der Handels- und Gewerbeverein klagt am 30. November 1914 in einem Brief an Spiritus über einen "vollständigen Mangel auf Kauflust, selbst bei den wohlhabendsten Leuten. Einzelne Geschäftszweige wie Konfektion, Mode und Luxuswaren, Juwelen- und Uhrenhandel liegen vollständig darnieder".

Dass die Wertschätzung gegenüber Schmuck rapide nachlässt, hat seine Gründe. "Wir möchten so gern in dieser schweren Zeit etwas besonderes tun, um dem Vaterland zu nützen", schreiben beispielsweise am 25. Januar 1915 einige Bonner Witwen an den OB und bitten um seine Genehmigung für eine Benefizaktion: Alle Schicksalsgenossinnen sollen zugunsten des "Invalidenfonds" ihre goldenen Trauringe spenden.

Die Bonner Pianistin Elly Ney, berühmteste Beethoven-Interpretin ihrer Zeit, bildet am 6. September 1914 im Stadttheater ein ungewohntes Ensemble mit dem Bonner Männer-Gesang-Verein und der Bonner Liedertafel. Ihr "Wohltätigkeitskonzert zum Besten der im Felde stehenden Bonner Bürger und deren Angehörigen" ist nur der Auftakt eines langen Reigens, der in den schicken Sälen des Bonner Bürger Vereins an der Poppelsdorfer Allee oder in Gaststätten wie Schumachers Gasthaus zur Traube unzählige Fortsetzungen findet.

Im wohlhabenden Bonn ist man spendabel. Auch die Anlageform der Kriegsanleihe erscheint vielen verlockend: Allein in den ersten acht Kriegswochen zeichnen die Bonner für 17,5 Millionen Mark. Organisationen wie die "Kriegsspende Deutscher Frauendank" sind in der Stadt ebenso aktiv wie der "Flottenbund Deutscher Frauen".

Vortragsreihen informieren über die "wirtschaftliche Kriegsbereitschaft im Hause". Die Themen lauten: "Wie kann die Frau helfen, den Krieg gewinnen?" und - die Versorgungslage hat sich inzwischen verschlechtert - "Was sollen wir jetzt kochen?" Am 17. August 1914 treffen erste Verwundetentransporte ein. Bonn wird Lazarettstadt.

Alle Kliniken, die meisten Altersheime und andere öffentliche Gebäude werden mit Verwundeten belegt. Selbst die Beethovenhalle ist einer von 50 Lazarett-Standorten. Wohlhabende Privatleute stellen ihre Häuser samt Personal zur Verfügung. Mehrere Privatinitiativen in Bonn sponsern Lazarettzüge, mit denen die Verletzten von der Front geholt werden. Der Transport innerhalb der Stadt erfolgt mit umgebauten Straßenbahnwagen. Insgesamt werden in Bonn während des Krieges 67.000 Verwundete versorgt.

"Welch ein trauriges Fest! Kein Ende zu sehen. Deutsche und Franzosen sind gut verschanzt", schreibt Anna Kohns zu Weihnachten 1914 in ihr Tagebuch. Ihre Gedanken sind bei ihrem Bruder Jean. "Ob er die Tage glücklich überstanden hat oder nicht? Wir wollen es hoffen." Vergeblich. Im September 1915 wird Jean nach einem Gefecht an der Marne zunächst als vermisst gemeldet; Monate später erreicht die Familie dann die Todesnachricht.

Für viele kommt jeder Sanitäter zu spät. Allein auf dem Bonner Nordfriedhof liegen am Ende 600 deutsche und feindliche Soldaten. Dutzende Kriegerdenkmäler in den Bonner Stadtteilen erinnern an die Zeit. Dem Autor dieser Zeilen schildert die Großmutter oft die einzige Erinnerung an ihren Vater: Sie, als Vierjährige, mit der Mutter und den acht Geschwistern am Rande eines Ackers stehend und dem Vater nachwinkend, der in Uniform fortreitet - und nie mehr nach Hause kommt.

Familiengeschichten, wie es sie zu tausenden gibt. Auch in Bonn. Die Brüder Oelbermann kehren aus dem Krieg heim und gründen den "Nerother Wandervogel". Anna Kohns bleibt Zeit ihres Lebens in Poppelsdorf wohnen, wo sie 1977 stirbt. Ihr Tagebuch aus dem Jahre 1914 landet nach einem Einbruch in das Haus auf einer Müllkippe in Essen, wird dort durch Zufall entdeckt und bleibt auf diese Weise der Nachwelt erhalten.

Fotos: H. Presuhn, Odenburg, Unbekannt

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