Interview mit Luxemburgs Außenminister Hat die EU in der Coronavirus-Krise versagt?

Luxemburg · Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn gilt als jemand, der gern Tacheles redet. Kurz vor dem EU-Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag sagt er, was er von der Union erwartet. Die „kindischen“ Streitereien über die Euro-Bonds will er beilegen.

 „Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass ein Land am Tisch sitzt, dessen Regierung nicht parlamentarisch kontrolliert wird“, sagt Jean Asselborn.

„Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass ein Land am Tisch sitzt, dessen Regierung nicht parlamentarisch kontrolliert wird“, sagt Jean Asselborn.

Foto: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

In der Coronavirus-Krise gibt die EU kein gutes Bild ab, manche sagen, sie habe versagt. Sehen Sie das auch so?

Jean Asselborn: Um fair zu sein, muss man zunächst feststellen: Die Gesundheitspolitik liegt in der alleinigen Verantwortung der Mitglied-
staaten. Das Virus stellt alle vor eine völlig neue Herausforderung. Es gibt keinen lebenden Menschen, der so etwas schon einmal erlebt hat.

Trotzdem wäre Abstimmung nötig und möglich gewesen – zum Beispiel in der Frage der Grenzschließungen. Da hat jeder gemacht, was er wollte.

Asselborn: Es bleibt richtig, dass die EU Ende März beschlossen hat, die Außengrenzen zu schließen. Für mich war damit Ende März eigentlich klar: Wenn wir diesen Schritt tun, bleiben die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten offen. Es ist bis heute nicht nachvollziehbar, warum Grenzschutzbeamte nun Autos anhalten und Personen kontrollieren. Das Virus lässt sich so sicher nicht bekämpfen. Ich habe diese Reaktion der Regierungen, auch von deutscher Seite, nicht verstanden. Heute haben wir ein völlig chaotisches Bild: Die Grenzen zwischen Frankreich und Luxemburg sind geschlossen. Aber die Übergänge zu Belgien, wo die Lage viel schlimmer ist, sind offen. So etwas ist natürlich schwer zu vermitteln. Und wenn man sich dann noch erinnert, dass EU-Bürger aus aller Welt nach Europa zurückgeholt wurden, anschließend aber tagelang nicht in ihre Heimat weiterreisen konnten, muss man nüchtern feststellen: Das ist nicht der Geist von Schengen und auch nicht der von Europa.

Welche Lehren sollte die EU jetzt ziehen?

Asselborn: Ganz sicher müssen wir über die Abhängigkeit Europas von anderen Staaten bei der medizinischen Ausrüstung diskutieren und Konsequenzen ziehen. Das darf nicht so bleiben. Noch vor zehn Jahren hätte Europa in so einer Krise Medikamente und Masken nach China geliefert. Heute ist es umgekehrt. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Nun geht es um den Wiederaufbau – und schon wieder wird über die diversen Bonds gestritten.

Sind Wiederaufbau-Bonds ohne gemeinsame Haftung der richtige Weg?

Asselborn: Die Finanzminister haben hervorragende Arbeit geleistet, als sie ein Hilfspaket über 540 Milliarden Euro geschnürt haben. Das gilt auch für die Europäische Zentralbank, die ja ein 750-Milliarden-Euro-Programm aufgelegt hat.

Aber viele südliche EU-Staaten wollen kein Geld vom ESM-Rettungsfonds?

Asselborn: Das stimmt. Wenn die ESM hören, denken sie an die Troika und somit an Sanktionen wie damals in Griechenland. Und wenn in Deutschland das Wort „Bonds“ fällt, reagieren viele höchst allergisch und zeigen einen politischen Abwehrreflex. Davon müssen wir wegkommen. Diese Krise betrifft jedes Land, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Es gibt nur Opfer. Alle müssen kämpfen, um die Probleme zu bewältigen. Deshalb sollten wir uns in dieser Woche auf Recovery-Bonds konzentrieren. Denn sie schaffen Kapital für Investitionen. Es bringt nichts, wenn die einen dauernd sagen „Wir brauchen Euro-Bonds“ und die anderen antworten „Euro-Bonds kommen nicht infrage“. Solche Streitereien sind kindisch. Das müssen alle wissen – auch Deutschland. Ihr Land kann nur erfolgreich sein, wenn es seine Exportpolitik wieder aufnehmen kann. Aber dafür braucht es eben auch kapitalkräftige Abnehmer und einen funktionierenden Binnenmarkt. Den gibt es aber nicht, wenn in Italien oder Spanien die Arbeitslosenquoten auf 20 oder 30 Prozent hochschnellen. Mein Appell an die Mitgliedstaaten lautet: Zieht endlich an einem Strang. Die Recovery-Bonds sind ein gutes Projekt.

Ungarn hat die Gunst der Stunde genutzt, um dem Premierminister praktisch unbegrenzte Vollmachten zu geben. Wie soll die EU jetzt reagieren?

Asselborn: Ich erlebe als Außenminister seit 2010 die Evolution in der ungarischen Politik. Es geht alles in die gleiche Richtung: Schwächung der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Artikel 2 der europäischen Verträge sagt, dass diese Union auf Demokratie aufgebaut ist. Damit kann man nicht spielen. Es ist in der EU in jeder Hinsicht unerträglich, wenn in Ungarn eine Machtfülle geschaffen wird, die nicht begrenzt wurde und die auch nicht rechtsstaatlich kontrolliert wird, sondern die Kritiker wie zum Beispiel in der Presse mundtot macht. Das dürfen wir Europäer uns nicht gefallen lassen. Um es anders zu sagen: Wir haben in der EU ein Land mit am Tisch sitzen, dessen Regierung nicht mehr parlamentarisch kontrolliert wird. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.

Die EU-Kommission hat dazu wenig gesagt ….

Asselborn: Die Kommission darf nicht wegschauen. Und auch nicht zögern. Hier steuert ein System immer weiter in die Richtung eines Illiberalismus, was nichts mehr zu tun hat mit Demokratie, Freiheit der Presse oder Gewaltenteilung. Wir dürfen das nicht hinnehmen.

Luxemburg hat am Wochenende – ebenso wie Deutschland – die ersten unbegleiteten Flüchtlingskinder von griechischen Inseln übernommen. Was erwarten Sie von den anderen EU-Partnern?

Asselborn: Ich setzte sehr darauf, dass Länder wie Irland, Portugal und Finnland und auch die Schweiz noch mitziehen. Meine große Hoffnung ruht auch auf Frankreich. Deutschland hat ja ebenfalls noch weitere Übernahmen unbegleiteter Minderjähriger angekündigt. Lassen Sie mich ganz persönlich hinzufügen: Ich habe die Kinder, die nach Luxemburg geflogen wurden, am vergangenen Samstag besucht. Die haben Furchtbares mitgemacht. Ein 13-jähriges Mädchen mit ihrem elfjährigen Bruder gehörte dazu und sie hat erschütternde Erlebnisse geschildert. Nun kommen sie, sogar mit viel Elan, um ihre große Chance in Europa zu nutzen. Wir können helfen und wir Europäer sollten das tun.

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