Aus U-Haft entlassen Freiheit für Menschenrechtler Peter Steudtner

Istanbul · In Istanbul endet der erste Prozesstag gegen den deutschen Menschenrechtsaktivisten und weitere Angeklagte überraschend mit einer Freilassung.

Was mag Peter Steudtner wohl durch den Kopf gegangen sein: Da steht er nach mehr als 100 Tagen in türkischer Untersuchungshaft am Mittwoch zum ersten Mal vor dem Richter – und muss sich mit bizarren Vorwürfen über einen „Elephanten“ befassen. Die regierungstreue Presse hat den Menschenrechtler als feindlichen Agenten abgestempelt, der unter anderem mit einem deutschen Überwachungsprogramm namens „Elephant“ gearbeitet haben soll. Der „Chaos-Trainer“ Steudtner habe das alles gestanden, hatte die Zeitung „Star“ im Juli verkündet. Der „Elephant“ ist nicht der einzige surreal anmutende Aspekt des Prozesses, der am Mittwoch im Justizpalast in Istanbul überraschend mit der Freilassung aller Angeklagten endete.

Das weiß Steudtner noch nicht, als er vor dem Richter erklärt, gemeint sei wohl „Elefand“ – die Abkürzung steht für die Elektronische Erfassung von Deutschen im Ausland, ein Angebot des Auswärtigen Amtes, um bei Katastrophen wie Erdbeben betroffene Bundesbürger möglichst rasch kontaktieren oder evakuieren zu können. Wie viele Deutsche im Ausland hatte sich auch Steudtner dort registriert. Geheim oder subversiv ist an „Elefand“ nichts. Mit einem Blick ins Internet oder einem Gespräch mit deutschen Diplomaten hätte das auch die türkische Staatsanwaltschaft in Erfahrung bringen können. Aber das hätte nicht ins Bild gepasst.

Dieses Bild der Anklage sieht ungefähr so aus: Zusammen mit anderen Menschenrechtlern trifft sich Steudtner Anfang Juli zu einer Geheimsitzung auf der Insel Büyükada, um staatsfeindliche Gruppen in der Türkei zu einem Aufstand gegen die Regierung anzustacheln. Unterstützt worden seien dabei die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, die kurdische Terrororganisation PKK und die linksextreme DHKP-C – Organisationen, die sich ideologisch gegenseitig spinnefeind sind. Für Steudtner, der sich bis zu seinem Besuch auf Büyükada nicht eingehend mit der Türkei befasst hatte, sind die Namen und Abkürzungen ohnehin ein Rätsel: Bis zu seiner Festnahme habe er nur von zwei der drei Gruppen überhaupt gehört – und das auch nur in den Nachrichten, sagt er vor dem Richter, wie Prozessteilnehmer aus dem Verhandlungssaal melden. Wie er Organisationen geholfen haben soll, die er nicht einmal kannte, bleibt ein Geheimnis der Staatsanwälte. Rätselhaft bleibt auch, warum die Polizisten bei ihrer Razzia auf Büyükada seinen Namen riefen. Das Konstrukt mit der gleichzeitigen Hilfe für Gülen, PKK und DHKP-C bildet einen wichtigen Bestandteil der Anklageschrift, in der für Steudtner und neun weitere Angeklagte jeweils fünf bis zehn Jahre Haft gefordert werden; für den elften Angeklagten, den Türkei-Vorsitzenden von Amnesty International, Taner Kilic, verlangt die Staatsanwaltschaft 15 Jahre. Die Anklageschrift war offenbar in aller Eile geschrieben worden, nachdem Außenminister Mevlüt Cavusoglu angesichts deutscher Proteste gegen Steudtners Inhaftierung eine rasche Bearbeitung des Falles zugesagt hatte.

Der 45-jährige Berliner beantragt vor Gericht seine sofortige Freilassung – und findet sich einige Stunden später überraschend auf einer Seite mit der Anklagevertretung: Die Staatsanwaltschaft bittet das Gericht, die Angeklagten auf freien Fuß zu lassen. Ohne Intervention der Regierung sei das Verhalten der Staatsanwälte kaum zu erklären, meint der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat. Möglicherweise spielte wachsender wirtschaftlicher Druck eine Rolle. Die Bundesregierung in Berlin hatte klargemacht, dass eine Normalisierung des Verhältnisses nur bei Freilassung von Häftlingen wie Steudtner oder Deniz Yücel möglich sein wird; der deutsch-türkische Journalist Yücel sitzt seit Februar ohne Anklage in Haft. Die Intervention von Außenminister Cavusoglu hatte die Hoffnung geweckt, dass die Türkei eine Verschärfung der Krise in den Beziehungen mit der Bundesregierung vermeiden will. Am späten Abend die Entscheidung: Alle Beschuldigten kommen auf freien Fuß – Peter Steudtner darf nach Hause.

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