Flüchtlinge Die EU steht sich selbst im Weg

Brüssel · In der Zuwanderungsfrage blockieren die Mitgliedsländer der Europäischen Union sich selbst. Denn Lösungsvorschläge gibt es genug, aber kaum jemand setzt sie um.

 Grenze zwischen Österreich und Italien: Der Brennerpass soll im Frühjahr zum nächsten Hotspot für Flüchtlinge werden.

Grenze zwischen Österreich und Italien: Der Brennerpass soll im Frühjahr zum nächsten Hotspot für Flüchtlinge werden.

Foto: dpa

Den Glauben an eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage hat die Bundeskanzlerin nicht verloren. Aber es wird einsamer um Angela Merkel, weil auch immer mehr ihrer Amtskollegen daran zweifeln, dass die EU einen Durchbruch schafft. Als der niederländische Premier Mark Rutte Mitte dieser Woche seinen Antrittsbesuch als frischgebackener EU-Vorsitzender für sechs Monate vor dem Parlament in Straßburg absolvierte, sagte er deutlich: „Uns bleiben noch sechs bis acht Wochen.“

EU-Gipfel-Chef Donald Tusk hatte nur Stunden zuvor bekannt: „Die Union hat noch zwei Monate für eine Lösung, dann ist Schengen (also das System der Reisefreiheit) am Ende.“ Dabei hat die Gemeinschaft kein Defizit an guten Ideen, wohl aber an deren Umsetzung. Widersinnige Strukturen, Unfähigkeit vor Ort und Eifersüchteleien der Mitglieder untereinander blockieren eine Lösung weitaus mehr, wie ein Überblick zeigt:

Beispiel Hotspots: Elf dieser Zentren, in denen Flüchtlinge erfasst, registriert und verteilt werden, sollten seit November in Betrieb sein. Von fünf Zentren in Griechenland ist eines in Betrieb, von sechs Hotspots in Italien sind es zwei. Die EU-Kommission hat sich nun Ende Februar als Startdatum für alle gesetzt. Aber noch fehlt es an vielem. Da gibt es Computer ohne Internetzugang, Zugriffe auf die Eurodac-Datenbank zur Speicherung der erfassten Daten sind unmöglich. Außerdem blockieren nach Angaben von EU-Diplomaten Griechenland und Italien die Zusammenarbeit mit den Beamten in den Zentren. Denn die Erfassung der Daten dauert, in der Zwischenzeit müssen die Asylbewerber betreut werden. Es ist einfacher, sie direkt weiterzuschicken.

Beispiel Verteilung: 160 000 Menschen aus griechischen und italienischen Lagern mit guter Asylrechtsprognose sollen bis Ende 2017 auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden. Zwar gab es eine Mehrheit im entscheidenden Ministerrat nur deshalb, weil vier Mitglieder überstimmt wurden. Aber sogar Polen ist inzwischen bereit, das zugesagte Kontingent aufzunehmen. Doch bisher wurden gerade mal 240 Menschen aus Italien und 82 aus Hellas auf andere Länder verteilt. Der griechische Migrationsminister Janis Mouzalas hat eine Ahnung, woran es liegen könnte: „Einige Länder wollen nur Christen, andere nur „große blonde Syrer mit blauen Augen und Hochschulabschluss“.

Beispiel Türkei-Aktionsplan: Drei Milliarden Euro wurden Ankara zugesagt, wenn es die Grenzen dichtmacht. 500 Millionen stehen dafür aus dem Etat der EU bereit. Den Rest sollen die Mitgliedstaaten beisteuern, tun es aber nicht. Nicht zuletzt Italiens Regierungschef Matteo Renzi legt sich quer und baut sich damit innenpolitisch zum großen Merkel-Widersacher auf. „Spätpubertär“ nennen Brüsseler Beobachter diese Reaktion.

Beispiel Außengrenze: Die Kommission will Frontex zu einer europäischen Grenzpolizei ausbauen. Widerstände gibt es seit dem Tag, an dem im Dezember der Vorschlag präsentiert wurde. Denn die Mitgliedstaaten wehren sich gegen die Quasi-Entmachtung. In Kürze will man in Brüssel einen weiteren Vorschlag für technische Überwachungsanlagen entlang der Außengrenze veröffentlichen. Dadurch würde sich die Gemeinschaft „vielleicht nicht mit Stacheldraht, wohl aber mit Abwehranlagen“ zum Bollwerk machen, sagen Kritiker im Parlament. Es fehlen also klare (völker-)rechtliche Grundlagen und Kompromisse, um alle Mitgliedstaaten zu gewinnen. Ist alles nicht neu, aber getan hat sich bisher nur wenig.

Beispiel Dublin: Laut Dubliner Vertrag ist das Land für einen Flüchtling verantwortlich, in dem er zuerst einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hat. Doch eine Zurückweisung ist in vielen Fällen gar nicht möglich. Der Grund: Im November 2014 hatte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg geurteilt, dass ein Mitgliedstaat nur dann Flüchtlinge wieder in den Ankunftsstaat zurückschicken darf, wenn dieses Land den Migranten persönlich garantiert, dass ihre Rechte – etwa zur gemeinsamen Unterbringung einer Familie oder einer angemessenen Betreuung – auch tatsächlich eingehalten werden. Im konkreten Fall ging es um Italien. Das Urteil ist sehr human, führt aber dazu, dass man in Rom oder auch Athen gar kein Interesse daran hat, die miserablen Bedingungen bei der Aufnahme und in den Lagern zu verbessern. Denn dann müsste man Flüchtlinge ja zurücknehmen.

Die Union steht sich selbst im Weg. Und es ist nicht erkennbar, woher innerhalb von wenigen Wochen die notwendige Bewegung herkommen soll, die für eine Entspannung nötig wäre.

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