Eine Übung als Beweis Der Fall des Menschenrechtlers Steudtner

Istanbul · Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner und sein schwedischer Kollege Ali Gharavi bleiben vorerst in türkischer Untersuchungshaft. Jetzt kommen Details zum Verfahren in der Türkei ans Licht.

 Gemeindemitglieder entzünden am 7. August vor einem Fürbittgebet für den in der Türkei inhaftierten Menschenrechtler Peter Steudtner in der Evangelischen Gethsemanekirche in Berlin Kerzen.

Gemeindemitglieder entzünden am 7. August vor einem Fürbittgebet für den in der Türkei inhaftierten Menschenrechtler Peter Steudtner in der Evangelischen Gethsemanekirche in Berlin Kerzen.

Foto: dpa

Die Türe stand offen, als die Polizei kam – so steht es im Durchsuchungsprotokoll: „Beim Eintreffen zu der Razzia im Hotel wurde festgestellt, dass die Türe zum Versammlungsraum im ersten Stock offen stand und die Personen darin in ovaler Runde zusammensaßen“, vermerkte die Polizeiwache auf der Prinzeninsel vor Istanbul nach der Erstürmung eines Seminars von Menschenrechtlern am 5. Juli, bei der auch der Bundesbürger Peter Steudtner festgenommen wurde. Wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation wurden Steudtner und fünf weitere Teilnehmer des Seminars – darunter ein Schwede – inhaftiert. Die türkische Presse überbietet sich seither in atemlosen Berichten über den deutschen „Geheimagenten“ und die Verschwörung gegen die Türkei, um die es bei dem Seminar auf der Insel gegangen sei.

Eine merkwürdige Verschwörung sei das, bei der die Teilnehmer nicht einmal die Türe schlossen, spottet der türkische Journalist Yildiray Ogur, der mit einer investigativen Recherche den Hergang der Verhaftungen rekonstruiert und sich sogar die Beweismittel im Faksimile beschafft hat. Ogur schreibt für die Zeitung „Karar“ und wird zum Umfeld des früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu gerechnet, der voriges Jahr bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in Ungnade gefallen und entlassen worden war. Seine Recherche enthüllt die geradezu lächerliche „Beweislage“, auf die sich das Verfahren gegen Steudtner und die anderen Inhaftierten stützt.

„Stressbewältigung und Datensicherheit“ lauteten die Themen des Seminars. Ein Dolmetscher war es nach Recherchen von Ogur, der die Polizei rief und dadurch die Affäre auslöste, die sich inzwischen zur Krise der deutsch-türkischen Beziehungen ausgewachsen hat. „Die anwesenden Personen erörterten, wie man die Daten auf seinem Telefon verschlüsseln könne, um sie vor der Polizei zu verbergen“, gab der Informant zu Protokoll.

Per Zufallsauswahl hatten die Veranstalter des Seminars zwei Übersetzer aus dem Bereitschaftspool des Dolmetscher-Vereins angeheuert. „Ein Blick auf die mit nationalistischen Parolen gespickte Facebook-Seite des Denunzianten hätte ihnen gezeigt, dass dieser ideologisch auf einem anderen Stern lebte“, stellte Ogur fest. Dass Menschenrechtsgruppen ihre Quellen und die Daten von Opfern vertraulich behandeln und vor dem Staat schützen wollen, war für die Seminarteilnehmer selbstverständlich – für den nationalistischen Dolmetscher aber Anlass zum Verdacht auf Landesverrat.

Zu den wichtigsten Beweismitteln der Staatsanwaltschaft zählt eine Landkarte, die bei der Razzia auf dem Konferenztisch lag und von der türkischen Presse als Plan zur Aufteilung der Türkei oder Einsatzplan zur Anstiftung von Massenprotesten im ganzen Land präsentiert wird. „Karar“ entlarvte die Propaganda mit dem Abdruck der Original-Karte, komplett mit dem Eingangsstempel der Ermittler: ein gewöhnliches Blatt Kopierpapier mit einer einfachen Kugelschreiber-Skizze der westlichen Umrisse der Türkei mit ein paar Strichfiguren und unglücklichen Smileys.

Was es mit dieser Zeichnung auf sich hatte, erklärte der zweite Dolmetscher als Zeuge im Ermittlungsverfahren: Als Entspannungsübung habe Steudtner die Teilnehmer aufgefordert, etwas zu zeichnen, was ihnen Stress bereite. Darauf zeichnete eine Menschenrechtlerin die Umweltzerstörung in ihrem Land: den Umriss der Türkei mit dem geplanten Atomkraftwerk im Norden und den Bettenburgen an der Mittelmeerküste im Süden. Die simple Kritzelei ist nun Beweisstück der Anklage im Terrorverfahren.

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