Brexit Goodbye Great Britain – and good luck!

An diesem Freitag scheidet Großbritannien nach 47 Jahren aus der Europäischen Union aus. Nach dem Referendum vor dreieinhalb Jahren geht noch immer ein tiefer Riss durch das Land.

 Unversöhnlich: Der Anti-Brexit-Aktivist Steve Bray (rechts) redet auf den konservativen Unterhaus-Abgeordneten Mark Francois ein, der vehement für den Austritt aus der EU geworben hat.

Unversöhnlich: Der Anti-Brexit-Aktivist Steve Bray (rechts) redet auf den konservativen Unterhaus-Abgeordneten Mark Francois ein, der vehement für den Austritt aus der EU geworben hat.

Foto: dpa/Kirsty O'connor

Für einen Moment blenden sie alles aus. Die Frustration. Die Wut. Auch die Trauer und all die Niederlagen dieser letzten, oft so bitteren dreieinhalb Jahre. Sie erheben sich von ihren Stühlen im prächtigen Saal der Londoner Westminster Central Hall. Zum Abschluss der Konferenz des proeuropäischen Bündnisses „Grassroots for Europe“ an diesem Samstag wollen sie noch einmal, zumindest für wenige Minuten, ignorieren, was war und dafür so tun, als wäre alles anders. Und so singen die rund 600 Aktivisten zum Abschied „Ode to Joy“ aus Beethovens Neunter, lächeln beseelt und schwenken EU-Fähnchen.

Wenige Tage vor dem Brexit-Tag die Europahymne anzustimmen, nur einige Meter vom ehrwürdigen Westminster-Palast entfernt, darf entweder als Ausdruck der Verzweiflung oder als so etwas wie letztes Zeichen des Widerstands auf der Insel verstanden werden. Oder als beides. Ihr Kampf ist verloren. An diesem Freitag um 23 Uhr Ortszeit, Mitternacht Brüsseler Zeit, tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. 47 Jahre hielt die Ehe, jetzt endet sie in der Scheidung. Erstmals verlässt ein Mitglied die Gemeinschaft. Aufgrund der zwischen London und Brüssel vereinbarten Übergangsphase bis zum 31. Dezember geht im Alltag der Menschen dies- und jenseits des Ärmelkanals aber alles weiter wie bisher.

Immerhin, Premierminister Boris Johnson würde das Wort Brexit am liebsten aus dem Vokabular streichen. Es sei an der Zeit, mit Selbstbewusstsein in die „aufregende Zukunft“ zu blicken. In jener werde sich das Land global und wegweisend präsentieren, sagt er. Die meisten Menschen hingegen haben sich längst erschöpft von der Politik und der Brexit-Saga abgewandt. Dabei handelte es sich beim ersten Akt des Dramas, so werden Experten nicht müde zu betonen, um die leichteste Übung. Die nächste Verhandlungsrunde, in der das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und EU vereinbart werden soll, dürfte sich weitaus komplizierter gestalten.

In den europaskeptischen Zirkeln werden an diesem Freitag die Fanfaren ertönen, wenn auch nicht Big Ben. Vorneweg der Tory-Abgeordnete Marc Francois: „Ich werde nicht ins Bett gehen in dieser Nacht, sondern wach bleiben und am Morgen beobachten, wie die Sonne über einem freien Land aufgeht.“ Zur großen Austrittsparty am Parliament Square soll im Übrigen nun der Big-Ben-Bong aus einem Gettoblaster ertönen. Eine halbe Million Pfund für elf Glockenschläge zu bezahlen, war sogar den eifrigsten Patrioten zu teuer.

„Wir sind raus“

Rückblende: „Wir sind raus“, sagte der BBC-Nachrichtensprecher am frühen Morgen des 24. Juni 2016 und er wiederholte diesen Satz immer wieder. „Wir sind raus.“ Mit diesen Worten wachte die Nation auf, den Brexit gab es zum Frühstück. Und während sich die vom Sieg überraschten EU-Skeptiker am eigenen Freudentaumel berauschten, kroch ein tauber Schmerz in die Seele der Verlierer, der Pro-Europäer. Reporter versuchten ob des Unfassbaren die Fassung zu bewahren. Ein demokratischer Betriebsunfall?

Der Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen Mary Universität in London spricht vielmehr vom „perfekten Sturm“, den das Königreich damals erlebt habe. Fünf Jahre wirtschaftlichen Stillstands hatte das Land gerade hinter sich, das Thema Migration trieb ganz Europa um und die Sorgen über Einwanderung nahmen auch in Großbritannien zu. Hinzu kamen „äußerst effektive Politiker“ wie Boris Johnson und der populistische EU-Hasser Nigel Farage, die für den Brexit warben, wenn auch nicht selten mit zurechtgestutzten Halbwahrheiten. „Das hat es der damaligen Minderheit erlaubt, die gegenüber der EU vornehmlich gleichgültig eingestellte Mehrheit zugunsten ihres Austrittsanliegens zu bekehren.“

Premierminister David Cameron, der Architekt des Referendums und damit auch der Vater des Dramas, kündigte seinen Rücktritt an. In den folgenden Wochen machte dann so ziemlich jeder andere einen Abgang, der noch kurz zuvor für den EU-Austritt getrommelt hatte, darunter auch der Chef-Cheerleader der Brexiteers, Boris Johnson. Er gehörte zu den Protagonisten des spektakulären Wettstreits um die konservative Führung. Mit Intrigen und einer ungeheuerlichen Skrupellosigkeit stieß sich das britische Establishment der Tories auf öffentlicher Bühne die Messer in die Rücken. Am Ende stand nur noch Theresa May.

Die Frau, die zwar offiziell zu den EU-Befürwortern zählte, sich im Wahlkampf aber weitgehend zurückgehalten hatte, sollte als neue Premierministerin die Rolle der nationalen und parteiinternen Versöhnerin übernehmen. Das ging, wie man in der Retrospektive sagen darf, ziemlich daneben. Am Ende erreichte das Chaos mit der Inthronisation Johnsons in der Downing Street seinen Höhepunkt. Die Gesellschaft zutiefst gespalten, das Land nah am Abgrund, aber immerhin, der Brexit ist durch.

Auf der Konferenz der Pro-Europäer suchen sie nach Orientierung und Ideen. Die Besucher sind aufgerufen, ihre Gefühle auf bunten Zettelchen zu beschreiben und sie auf die bereitstehenden Tafeln zu kleben. „Deprimiert“, „frustriert“, „verzweifelt“, „zutiefst traurig“, „wütend“ – die Lektüre der Antworten passt zur Trauerfeier, auf der man mit aller Macht versucht, das Wort „Wiedereintritt“ zu vermeiden.

Auch Denis MacShane winkt ab. Er war Labour-Abgeordneter zu einer Zeit, die wie eine Ewigkeit her scheint. Als Staatssekretär für Europa saß er im Kabinett von Tony Blair. In spätestens zwei Jahren, so vermutet der Brexit-Gegner, würden die Briten von der Realität eingeholt. Und wolle Johnson wirklich Premierminister eines Landes sein, das permanent in der Krise stecke? MacShane zuckt mit den Schultern. Niemand weiß, was kommt. Doch jetzt schon von einem Wiedereintritt in die EU zu sprechen, wäre, „als hätte Winston Churchill im Sommer 1940 die Landung der Alliierten in der Normandie angekündigt“. Alles zu seiner Zeit. Sie rechnen mit zehn bis 20 Jahren, die es dauern wird, bis man wieder auf ein EU-Mitglied Großbritannien hoffen darf.

Immerhin, anders als noch vor wenigen Jahren präsentiert sich heute eine enthusiastische pro-europäische Bewegung auf der Insel, die drei Mal Hunderttausende Menschen mobilisiert hat, gegen die Scheidung zu demonstrieren. Ob das Lager ein Comeback feiern kann, das hänge sowohl von der Entwicklung des Königreichs und dessen Wirtschaft als auch vom Zustand der EU ab, sind sich alle einig. Wird Großbritannien abermals zum „kranken Mann Europas“, wie dies Anfang der 1970er Jahre der Fall war? Die Gesundung verdankte das Land dem Beitritt zur EWG, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Von der glorreichen Zukunft des „globalen Großbritanniens“ ist Dominic Raab überzeugt. Er war Brexit-Minister und lernte unter viel Spott, dass das Königreich auch geografisch eine Insel ist, der Ärmelkanal deshalb große Bedeutung für die Wirtschaft hat. Heute ist er Außenminister, trommelt im Auftrag seines Chefs für Versöhnung und hat zwei Tage vor dem Stichtag die europäische Presse geladen. Da redet er sehr viel von „noch engeren Beziehungen“ zu „unseren engen und starken europäischen Nachbarn, Partnern und Freunden“, mit denen man „sogar noch bessere und engere Nachbarn, Partner und Freunde“ sein könne nach dem Brexit. Er sagt das bestimmt 20 Mal.

Man musste sich in dieser unendlich scheinenden Saga mit all ihren Wendungen und Dramen wie in einer Zeitschleife gefangen fühlen. Ein Schritt vor, zwei zurück. So ging das unaufhörlich. Hunderte Stunden Parlamentsdebatten, Rücktritte, Parteispaltungen, Gezeter und Getöse, zwei Unterhauswahlen, eine Parlaments-Zwangspause, Drohungen und Demütigungen, nächtliche Abstimmungen und immer wieder Niederlagen. Das Projekt hat das Königreich schier überwältigt, sodass am Ende Johnsons Wahlversprechen „Let’s get Brexit done“, („Lasst uns den Brexit durchziehen“) für viele Briten fast wie eine Verheißung klang. Ja bitte, raus. Mach, dass es aufhört. Nun hat der Premier geliefert. Goodbye Great Britain – and good luck!

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