Kommentar zur Brexit-Entscheidung Am Ende könnte ein Klein-England übrig bleiben

Meinung | London · Beim Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU haben sich die Europagegner durchgesetzt.

Die Briten verlassen tatsächlich die EU und treten damit die europäische Idee mit Füßen. Kleingeistig setzen sie in Zeiten grenzüberschreitender Probleme auf Isolation und Abschottung statt auf Zusammenarbeit und Austausch. Heute mögen noch viele EU-Gegner ihren Moment des Stolzes feiern. Sie werden über die vermeintliche Souveränität jubeln, die sie sich zurückerobert und über jene Kontrolle, die sie sich erkämpft haben. Doch die wirtschaftlichen Auswirkungen werden immens sein, da hilft auch aller Patriotismus nichts.

Das Schlimme ist, dass die Polemik der Brexiteers bei vielen Menschen verfangen hat und sie ihre Entscheidung aufgrund einer verzerrten Argumentation gefällt haben. Falsche Zahlen wurden präsentiert, Ängste geschnürt, mit Übertreibungen gespielt, Horrorszenarien ausgemalt und selbst Experten die Kompetenz abgesprochen. Aber wer räumt das Chaos auf, wenn alle nach der Party zum „Unabhängigkeitstag“ mit einem schlimmen Kater erwachen? Großbritannien ist keine Weltmacht, wie manche in ihrer Rückwärtsgewandtheit noch immer glauben.

Investoren, Unternehmen und Banken werden sich lieber dem europäischen Binnenmarkt mit seinen bald nur noch gut 430 Millionen Einwohnern zuwenden als sich in einem Land niederzulassen, in dem auf Jahre hinaus Ungewissheit herrschen wird. Noch gibt es keine Handelsdeals, keine Abkommen. EU-feindliche Wortführer wie der Opportunist Boris Johnson, der sich aus politischem Kalkül auf die Seite von „Leave“ gestellt hat, oder Justizminister Michael Gove müssen Verantwortung übernehmen. Brüssel dient nicht länger als Sündenbock für eigene Versäumnisse.

Die größte Aufgabe besteht jetzt darin, das Königreich zu befrieden. Nach monatelangen Kämpfen geht ein tiefer Riss durch das Land – sowohl geografisch als auch durch die Gesellschaft. Auf der einen Seite Schottland und Nordirland, die sich mehrheitlich für Europa ausgesprochen haben. England hat sie überstimmt. Dass die Schotten in absehbarer Zeit ein erneutes Unabhängigkeits-Referendum fordern werden, gilt als sicher. Am Ende könnte ein Klein-England übrig bleiben.

Dann die Spaltung der Wähler: Für die europafreundliche Seite traten mehrheitlich jüngere, wohlhabendere, gebildetere Menschen ein, die von der Offenheit des Arbeitsmarkts profitieren, über den Tellerrand hinausblicken und erkennen, dass Abschottung und Nationalismus nicht mehr der heutigen Zeit entsprechen und noch weniger in die Zukunft führen. Das Leave-Lager wurde dagegen von überdurchschnittlich vielen älteren Männer unterstützt, die sich „für die Rückeroberung der Kontrolle über Großbritannien“ begeistern konnten. Hinzu kamen weniger gut ausgebildete Briten, die unzufrieden sind, sich in Zeiten der Globalisierung verlassen fühlen, Angst vor Immigration, Jobverlust und der Zukunft haben. Als „Revolte der Arbeiterklasse“ bezeichnete ein Journalist das Phänomen.

Die Verlierer der Globalisierung haben die Gewinner überstimmt. Es handelte sich um klassische Labour-Wähler, doch die Sozialdemokraten haben es auf krachende Weise versäumt, die Sorgen und Stimmungen ein- und aufzufangen. Das übernahmen dann leider die Rechtspopulisten von Ukip, die vor allem gegen Einwanderer und das Polit-Establishment wetterten. Immigration war am Ende das entscheidende Argument im „Leave“-Lager. Die Seite, die für den Verbleib warb, hatte dem nichts entgegenzusetzen. Die Natur der Themen sorgte zudem dafür, dass der Ton völlig aus dem Ruder lief, begleitet von der konservativen, teils hetzerischen Boulevardpresse.

Wie können die Gräben wieder zugeschüttet werden? Wer soll die Wunden heilen? David Cameron ist politisch nicht mehr haltbar, der Premierminister muss zurücktreten. Zu hoch gepokert und alles verloren, so lässt es sich zusammenfassen. Ohne Not hat er das Referendum versprochen, um die rebellischen Tory-Europaskeptiker zu beruhigen, die seit Jahren zumindest eine harte Hand gegenüber Brüssel, aber am liebsten gleich den Austritt aus der Union forderten. Zu mächtig schienen ihm offenbar die Stimmen der schreihälserischen Hinterbänkler in den eigenen Reihen, die Cameron von Beginn seiner Amtszeit auf den Füßen standen. Zudem wollte der Premier auf diese Weise den Aufstieg der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip bremsen. Sie aber ist nun stärker wie nie. Dass Cameron versprach, die Zahl der Einwanderer auf unter 100.000 zu senken, war fahrlässig und hat dem Leave-Lager Auftrieb gegeben.

Die vergangenen Monate, in denen Beleidigungen, Lügenvorwürfe und garstige Töne die Kampagnen bestimmten, haben das Klima völlig vergiftet. Cameron erreichte mit seinem Vorgehen das Gegenteil von dem, was er wollte: Hier präsentiert sich keine vereinte, sondern eine tief gespaltene Partei. Sie passt zum Zustand dieses Landes. „Wir versuchen, unsere Identität zu finden“, schrieb kürzlich ein Kommentator im „Guardian“. Doch bislang scheint es noch an einer Idee zu fehlen, wie das moderne Großbritannien definiert sein könnte. Nur so viel: Es will nicht mehr Teil der EU sein.

Auch wenn das größte Friedensprojekt des 20. Jahrhundert gefährlich wacklig dasteht, Europa kann und wird sich berappeln. Von Bedeutung wird sein, ob die 27 anderen Mitgliedstaaten wirklich konsequent bleiben und ihre deutlichen Ankündigungen umsetzen. Großbritannien ist ein wichtiger Partner und Freund, aber muss für seine Entscheidung eben auch gerade stehen. Ohne europäischem Binnenmarkt, ohne freien Kapitalverkehr und mit Konsequenzen für alle Briten, die derzeit auf dem Kontinent leben und arbeiten. Die EU kann damit zeigen, wie sehr die Menschen doch von der Gemeinschaft profitieren und gleichzeitig Schlagkraft entwickeln. Sie muss diesen Moment als Weckruf begreifen und auch ohne den Sonderschüler Großbritannien notwendige Reformen einleiten, ein positiveres Bild der EU zeichnen, Lust machen auf Europa und ja, warum nicht, Begeisterung wecken.

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