Kommentar zur Lage in der Türkei Zu weit gegangen

Meinung | Istanbul · Erdogan-Kritiker sprechen von einem Marsch in den Polizeistaat. Doch jetzt zeichnet sich zumindest in einigen Aspekten ein Umdenken der Führung in Ankara ab – der Grund dafür liegt vor allem im wachsenden Unmut in der Türkei selbst.

Seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres betreibt die Regierung des türkischen Präsidenten Erdogan eine Hexenjagd auf angebliche Staatsfeinde, bei der schon das Gerücht einer regierungskritischen Äußerung zu einer Haftstrafe führen kann. Erdogan-Kritiker sprechen von einem Marsch in den Polizeistaat. Doch jetzt zeichnet sich zumindest in einigen Aspekten ein Umdenken der Führung in Ankara ab – der Grund dafür liegt vor allem im wachsenden Unmut in der Türkei selbst. Die Kritik aus dem Ausland wäre für sich alleine nicht stark genug, um einen Kurswechsel zu erzwingen.

Erdogans Blick ist auf das Wahljahr 2019 gerichtet. Der Staatspräsident braucht also so viel Rückendeckung wie möglich, doch zuletzt hatte er selbst für Kritik im eigenen Lager gesorgt, indem er mehrere Großstadtbürgermeister seiner Partei AKP zum Rücktritt zwang. Die zunehmende Willkür bei der Verfolgung angeblicher Regierungsgegner schafft ebenfalls viel Unwillen, weil viele Unschuldige im Gefängnis sitzen, deren Familien vor dem Ruin stehen. Gleichzeitig zeigt sich, dass einige Verdächtige, darunter Familienangehörige hochrangiger Politiker, weit weniger von der Justiz zu befürchten haben als andere.

Aus der Sicht vieler Türken ist Erdogan in letzter Zeit schlicht zu weit gegangen. Wirtschaftliche Probleme wie der Kursabsturz der Lira seit dem Beginn des jüngsten Streits mit den USA erhöhen den Druck auf Ankara. Rasche Grundsatzänderungen wie eine Rückkehr zum EU-Reformkurs früherer Jahre sind jedoch nicht zu erwarten, eher graduelle Erleichterungen und symbolhafte Schritte zur Entspannung der Lage.

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