Nervengift Nowitschok Unabhängige Experten untersuchen Gift im Fall Skripal

London/Moskau · Wie ein Agenten-Thriller: Ein Attentat gegen einen Ex-Doppelagenten löst eine politische Krise aus. Im Zentrum der Ermittlungen steht ein verbotenes Nervengift. Wird der Fall Skripal weiter eskalieren?

Schwere Vorwürfe im Fall des Ex-Spions Skripal: Großbritannien hat nach eigenen Angaben Beweise für die Produktion und Lagerung des verbotenen Nervengifts Nowitschok in den vergangenen zehn Jahren in Russland.

Mit einer solchen Substanz wurden London zufolge der Ex-Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Yulia vor zwei Wochen vergiftet. Die Reaktionen Moskaus auf den Fall sprechen für sich, wie Außenminister Boris Johnson der BBC sagte. Russland weist alle Beschuldigungen zurück - und nennt Großbritannien und weitere Länder als mögliche Hersteller des Giftes.

Unabhängige Experten sollen nun Proben des bei dem Attentat verwendeten Gifts untersuchen. Vertreter der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag werden an diesem Montag in Großbritannien erwartet, wie das Außenministerium in London mitteilte. Die OPCW lasse die Proben in internationalen Labors untersuchen. Dies werde mindestens zwei Wochen dauern. Nowitschok war bislang nur als Nervengift aus der früheren Sowjetunion bekannt.

Johnson kündigte an, am Montag die EU-Außenminister über den Fall zu informieren und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu treffen.

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach in der "Bild am Sonntag" von einem Regelbruch Russlands und rief die EU und die USA zu einer geschlossenen Reaktion auf. Nach einer repräsentativen Emnid-Umfrage stehen die meisten Deutschen aber solchen Maßnahmen gegen Russland skeptisch gegenüber. Nur 26 Prozent der Befragten sind dafür, 69 Prozent sprachen sich dagegen aus.

Sergej Skripal (66) und seine Tochter Yulia (33) befinden sich in einem kritischen Zustand. Sie waren am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank im südenglischen Salisbury aufgefunden worden. London beschuldigte den russischen Präsidenten Wladimir Putin als direkten Drahtzieher. Der Streit entwickelte sich zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern samt Sanktionen.

Am Samstag ordnete Moskau die Ausweisung von 23 britische Diplomaten in Russland an. Zudem verbot Russland den Betrieb des britischen Generalkonsulats in St. Petersburg und des Kulturinstituts British Council im Land. London kündigte als Reaktion an, in den nächsten Tagen im Nationalen Sicherheitsrat weitere Schritte zu erörtern.

Der Kreml reagierte auf Strafmaßnahmen, die die britische Premierministerin Theresa May zuvor in London verkündet hatte. Dazu zählt die Ausweisung 23 russischer Diplomaten und das Kappen bilateraler Beziehungen "auf hoher Ebene".

Die russischen Strafmaßnahmen sind angesichts der Präsidentenwahl am Sonntag auch als Signal der Stärke an die Wähler zu werten, dass sich Russland vom Westen nicht in die Ecke drängen lässt. Es wird ein eindeutiger Sieg von Amtsinhaber Wladimir Putin erwartet.

Welche weiteren Sanktionen sind zu befürchten? Britische Zeitungen halten es für möglich, dass das Vermögen von dem Kreml nahestehenden russischen Oligarchen in London eingefroren wird. Großbritannien fürchtet den Berichten zufolge vor allem Cyberattacken aus Russland.

London habe Moskau mit seinen Vorwürfen provoziert, schrieb das russische Außenministerium am Samstag. Die 23 britischen Diplomaten hätten nun eine Woche Zeit, das Land zu verlassen - dieselbe Frist hatte London auch den betroffenen russischen Diplomaten gesetzt. Großbritannien wird nach Worten von Premierministerin May niemals Bedrohungen britischer Bürger durch Russland dulden.

Der Moskauer Außenpolitikexperte Alexander Kramarenko nannte die Gegenmaßnahmen "ziemlich hart". Er gehe davon aus, dass die Spannungen mindestens für die Amtszeit der jetzigen britischen Regierung bestehen bleiben dürften, sagte er.

Der russische Diplomat Alexander Schulgin behauptete, dass auch der Westen Zugriff auf das Gift gehabt haben könnte. "Mit hoher Wahrscheinlichkeit" könne angenommen werden, dass der in Salisbury verwendete Stoff aus einem westlichen Labor stamme, sagte der russische Vertreter bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Er nannte ausdrücklich Großbritannien und die USA. Westliche Geheimdienste hätten in den 1990er Jahren russische Chemiker, die Wissen über Arbeiten aus der Sowjetunion hatten, angeworben und mit diesen Informationen aktiv gearbeitet.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, zählte im Nachrichtensender Rossija 24 neben Großbritannien und den USA auch Tschechien, die Slowakei und Schweden als mögliche Herkunftsländer des Nervengiftes auf. Die Regierungen in Prag und Bratislava wiesen dies umgehend und vehement zurück.

Nach Angaben von Scotland Yard könnten die Untersuchungen im Fall Skripal noch Monate dauern. Rund 400 Zeugen hätten bereits ausgesagt, Hunderte weitere sollen in den nächsten Tagen dazukommen. Etwa 250 Spezialisten der Anti-Terror-Polizei seien mit dem Fall beschäftigt.

Skripal soll den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 über russische Agenten in Europa informiert haben. 2004 flog der ehemalige Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU auf und wurde festgenommen. Er wurde zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs kam er 2010 nach Großbritannien.

Für Unruhe in Großbritannien sorgt auch der Mord am Kreml-Kritiker und Geschäftsmann Nikolai Gluschkow. Die britische Polizei kontaktierte eine Reihe von Exil-Russen und mahnte sie zur Vorsicht. Damit hätten die Sicherheitsbehörden ihre bisherige Einschätzung von einem geringen Risiko für Exil-Russen im Land geändert, berichtete der Sender BBC. Es sei aber weiter kein Zusammenhang zwischen dem Tod Gluschkows und dem Anschlag auf Skripal erkennbar.

Bei den Ermittlungen fanden Rechtsmediziner am Hals Gluschkows Gewaltspuren, wie Scotland Yard mitteilte. Der 68-Jährige war am vergangenen Montag tot in seinem Haus in London entdeckt worden. Gluschkow hatte für die russischen Konzerne Avtovaz und Aeroflot gearbeitet. 2004 war er in seiner Heimat zu drei Jahren und drei Monaten Haft nach Vorwürfen von Betrug und Geldwäsche verurteilt worden. 2010 erhielt er in Großbritannien Asyl.

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