Interview mit Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn über die Flüchtlingspolitik Europas

BAD GODESBERG · Jean Asselborn ist seit 2004 Außenminister in Luxemburg. Mit Sorge blickt er auf den Asylstreit in der EU und innerhalb der deutschen Regierung. Helge Matthiesen und Nils Rüdel trafen Asselborn in Bad Godesberg.

 Jean Asselborn,

Jean Asselborn,

Foto: dpa

Herr Asselborn, der Ausgang des Streits zwischen Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer über Zurückweisungen von Flüchtlingen hat Auswirkungen auf ganz Europa. Wie sehen Sie das?

Jean Asselborn: Ich möchte mich nicht in die deutsche Innenpolitik einmischen. Aber ich sagen Ihnen, in welchen Punkten wer von beiden Recht hat.

Gern.

Asselborn: Seehofer hat prinzipiell recht, wenn es um bereits abgelehnte Asylbewerber geht. Aber nur dort. Nach den Schengen-Regeln (der Wegfall der Grenzkontrollen in der EU – Anm. d. Red.) muss man einen Asylbewerber, dessen Antrag ein Gericht rechtsgültig abgelehnt hat, nicht ins Land hereinlassen. Den kann man an der Grenze zurückschicken.

Seehofer will aber auch Jene abweisen, die in anderen Ländern registriert wurden. Merkel ist dagegen. Wo hat die Kanzlerin recht?

Asselborn: Merkel hat europäisch gesehen absolut recht, weil sie eine EU-weite Lösung sucht. Wenn sich Seehofer durchsetzt, passiert Folgendes: Wenn etwa ein über Italien eingereister Flüchtling an der deutschen Grenze abgelehnt wird, wird er direkt zurückgeführt nach Österreich. Und Österreich führt ihn dann zurück nach Italien. Wir drücken noch mehr Lasten auf die Länder an den EU-Außengrenzen. Nein, wir haben nur eine Chance, wenn wir europäisch vorangehen. Wir dürfen den Menschen nicht glauben machen, dass man das national lösen kann.

Es ist vielen Deutschen aber nicht vermittelbar, warum ein Flüchtling, der in einem anderen EU-Land registriert wurde, nicht abgewiesen werden kann.

Asselborn: Die darf man gar nicht abweisen, so lange ihr Asylantrag noch nicht abgelehnt wurde. Als in den letzten drei Jahren ein großer Andrang nach Italien herrschte, hat das Land viele gar nicht registriert oder gleich auf die Straße gesetzt. Da sind Familien dabei, die Schlimmes mitgemacht haben. Die Regeln von Dublin verlangen: Erst einmal muss in dem Land, wo einer anklopft, die Prozedur anlaufen. Wenn sich dann herausstellt, dass er in einem anderen Land registriert war, dann kann man ihn zurückschicken. Aber das Land muss ihn auch aufnehmen wollen.

Aber dieses System ist reformbedürftig.

Asselborn: Im Moment ist es so, dass die Asylbewerber in den Ländern mit EU-Außengrenze registriert werden müssen. Und auch wenn Hunderttausende kommen, müssen die dableiben. Ich finde aber: Wir müssen die Menschen verteilen. Das ist der Vorschlag der Kommission, und der Europäische Gerichtshof hat im September 2017 ganz klar festgehalten, dass das rechtens ist. Dass EU-Recht vorschreiben kann, dass man die Lasten aufteilt. Jedes Land muss bereit sein, in der Krise eine gewisse Zahl, die vorher festgelegt wird, aufzunehmen. Wohl gemerkt: Ich spreche von Flüchtlingen, die unter die Genfer Konvention fallen.

EU-Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien wollen das nicht mitmachen.

Asselborn: Wir erreichen nichts, weil sich diese Länder seit 2015 dagegen wehren. Und jetzt haben wir zusätzlich das Unglück, dass sich die österreichische Regierung zum Anführer dieser Länder gemacht hat. Das ist unverantwortlich, unsolidarisch und uneuropäisch. Wenn wir uns nicht als Europäer gemeinsam um die Asylsuchenden kümmern, ist das das Ende der europäischen Moral in der Flüchtlingsfrage. Das ist für mich der Härtetest für das Weiterbestehen der Europäischen Union.

An dieser Frage kann Europa zerbrechen?

Asselborn: Ja, weil es hier ja um elementarste Solidarität und Menschlichkeit geht. Und weil es um Verantwortung geht. Und es geht um Schengen. Wenn jedes Land wieder seine Grenzen kontrollieren will, ist Schengen kaputt. Und warum wurde Schengen gemacht? Vor allem wegen Deutschland, wegen seines Exportpotenzials. Damit die Warenströme in die Nachbarländer fließen können. Deutschland wird ersticken, wenn Schengen nicht mehr funktioniert. Das muss man Herrn Seehofer zu verstehen geben.

Sie sprechen von Solidarität. Ungarns Ministerpräsident Orbán sagt:Unser Beitrag zur Solidarität war, dass wir mit einem Zaun die Schengen-Außengrenze sicher gemacht haben. Denn die Flüchtlinge wollen ohnehin alle nach Deutschland weiter.

Asselborn: Jedes EU-Land ist Mitglied der Genfer Konvention. Wir haben Menschen hereinzulassen, die an die Tür klopfen, die verfolgt werden. Zweitens: Orbans Argument, die Leute wollten ohnehin nur nach Deutschland, ist falsch. Wir als Europäer können doch sagen, wo ein Flüchtling hingehen muss. Sonst verliert er eben seine Rechte. Das ist alles machbar.

Kann legale Einwanderung ein Schlüssel sein, um den unlösbaren Konflikt zu befrieden?

Asselborn: Ich glaube, dass Europa Migration braucht. Es sind weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Im Jahr 2050 verliert Europa 49 Millionen an Arbeitskräften zwischen 20 und 64 Jahren, allein Deutschland elf Millionen. Wir müssen also auch eine Debatte führen über legale Migration.

Jetzt haben wir die Situation, dass die Kanzlerin, die den europäischen Ansatz verfolgt, politisch stark unter Druck ist und gar ihr Amt verlieren kann. Wer kann denn das Problem auf der europäischen Ebene lösen?

Asselborn: Es gibt keine Person, die das lösen kann. Es gibt nur die Einsicht, dass es nur europäisch geht. Und wenn diese Einsicht nicht kommt, sind wir in einem anderen Europa. Dann verhandelt wieder jedes Land bilateral. Das war nicht die Idee für Europa nach dem zweiten Weltkrieg.

Am Sonntag will Merkel auf einem EU-Sondertreffen Abkommen ausloten. Was denken Sie darüber?

Asselborn: Jede Anstrengung, die unternommen wird, um eine europäische Lösung zu finden, sehe ich als richtig an.

Und kann der EU-Gipfel kommende Woche Lösungen bringen?

Asselborn: Nein, dort wird keine Lösung gefunden werden. So lange der Gedanke nicht geteilt wird, dass es einer europäischen Lösung bedarf und immer mehr Länder auf nationale Lösungen drängen, kommen wir nicht weiter.

Der Gipfel will sich für Zentren in Afrika einsetzen, wo die Menschen direkt Asyl beantragen können.

Asselborn: Es ist richtig, diese Menschen nicht den Schleppern auszuliefern. Das machen wir ja zum Teil schon in Jordanien oder der Türkei. Aber auch wenn das funktioniert, wird es noch immer Menschen geben, die trotzdem hereinkommen und auf Grund der Genfer Konvention beweisen können, dass sie verfolgt werden. Und die werden sich in den Ländern mit EU-Außengrenze weiter stauen, wenn wir keine europäische Lösung hinbekommen.

Der neue italienische Innenminister Salvini will die Häfen dichtmachen für Neuankömmlinge.

Asselborn: Ich war auf Lampedusa und auch auf der griechischen Insel Lesbos. Wie will man hier dicht machen?

Wir sehen die nationalen Tendenzen, in Osteuropa, Österreich, auch in Deutschland. Wie soll sich das je wieder umkehren?

Asselborn: Wir brauchen eine gesamteuropäische Migrationspolitik. Wir brauchen ein europäisches Gericht, das entscheidet, welcher Flüchtling unter die Genfer Konvention fällt und wer nicht. Die Verfahren müssen in jedem EU-Land dieselben sein, die soziale Unterstützung muss dieselbe sein. Und die Dauer der Verfahren muss dieselbe sein. Einheitlich, nach dem Vorbild des Europäischen Patentamtes. Das müsste man auch bei der Migration hinbekommen. Aber wenn immer wieder dazwischengefunkt wird mit nationalen Alleingängen, dann muss man irgendwann den Laden zumachen und sagen, das war’s jetzt mit dem viel gepriesenen Geist der Europäischen Union.

Hat Merkel nicht selbst zu den Schwierigkeiten in der EU beigetragen, indem sie im September 2015 ohne Absprache mit den anderen Regierungen die Flüchtlinge ins Land ließ?

Asselborn: Das stimmt ja alles nicht. Stellen Sie sich vor, Deutschland hätte es gemacht wie Ungarn, mit Stacheldraht, eine Katastrophe! Nicht nur für Deutschland, für ganz Europa. Außerdem: Wenn Deutschland da gezögert hätte, dann wäre es auf dem Balkan wieder zu Kriegen gekommen. Wenn jedes Land wie Orbán vorgegangen wäre, dann gute Nacht Europa. Nein, Deutschland hat in dieser Frage mit die größte Arbeit für Europa getan. Dass dann Pegida und die AfD aufkamen, ist der Preis, aber dagegen muss man kämpfen.

Wie weckt man wieder Begeisterung für Europa?

Asselborn: Schauen Sie, ich glaube, dass bei der Wahl in Italien die soziale Frage zu 80 Prozent entscheidend war. Sie kennen das Wort von der verlorenen Generation. Davon reden wir hier nicht, aber davon redet man in Spanien und Italien. Die EU ist manchmal das einzige Geländer, das die jungen Menschen dort haben, um sich da rauszuziehen.

Können Merkel und der französische Präsident Macron noch gemeinsam Europa voranbringen? Soeben haben sie sich etwa auf ein Eurozonen-Budget geeinigt…

Asselborn: Die Bewegung aufeinander zu geht Schritt für Schritt voran. Der Wille ist zurzeit das wichtigste. Deutschland kann nur gewinnen, wenn es ein wenig europäisch gibt, um das zu erhalten, was es groß und stark gemacht hat.

Es gibt auch im deutschen Koalitionsvertrag neue Initiativen für Europa. Sehen Sie da noch Chancen, oder geht es nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern?

Asselborn: Wir waren eigentlich auf einem guten Weg. Erst die Vorschläge von Kommissionspräsident Juncker und Macron, dann die Antwort von Merkel. Aber dann wurde wieder alles zugeschüttet durch diese Migrationsdebatte. Dabei ist gar nichts Neues geschehen, die Asylzahlen sinken sogar. Die Koalition muss jetzt zeigen, dass ihr einziges großes Ziel nicht Landtagswahlen sind, sondern alles, was in Kapitel eins des Koalitionsvertrages über Europa steht.

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