Nach verschobener Abstimmung Gibt es noch Spielraum beim Brexit?

London/Berlin/Brüssel · Nach der Verschiebung der Brexit-Abstimmung weiß man in London nicht so recht, wie es weitergeht. Premierministerin Theresa May tourt unterdessen durch Europa, um für Zugeständnisse im Brexit-Abkommen zu werben.

Am Morgen danach versuchte Westminster nicht einmal, so zu tun als wäre alles in Ordnung. Das Königreich steckt in einer tiefen Krise. Und es waren nicht nur die etlichen Pavillons der Fernsehsender vor dem Parlament, die diesen Umstand veranschaulichten oder die beflaggten Aktivisten, die in noch größerer Zahl als sonst wahlweise für den Brexit oder dagegen demonstrierten. Die politische Klasse taumelte wie verkatert durch Londons Regierungsviertel nach jenem Montag, der mit all seinen Wirrungen und Wendungen selbst das an politisches Chaos gewöhnte Land überraschte.

Premierministerin Theresa May hatte eine für Dienstagabend geplante Abstimmung über das Austrittsabkommen im Unterhaus aus Angst vor einer krachenden Niederlage kurzerhand verschoben. Ohne zunächst einen neuen Termin anzugeben. Ohne einen neuen Plan zu präsentieren. In den altehrwürdigen Hallen des Westminster-Palasts herrschte denn auch Ärger, Wut und Frust. Sowohl Brexit-Anhänger als auch EU-Freunde, sowohl die oppositionelle Labour-Partei als auch etliche Konservative fühlten sich kaltgestellt. „So sieht keine Demokratie aus, die Premierministerin ignoriert das Parlament“, schimpfte ein Tory-Politiker.

Hitzig war es bereits am Montagnachmittag gewesen, als May sich den aufgebrachten Abgeordneten gestellt hatte, von denen sie geradezu demontiert worden war. Doch die Demütigung, die Rücktrittsforderungen und harsche Kritik schienen an der Regierungschefin abzuprallen. Mittlerweile wird sie wegen ihrer Hartnäckigkeit, im Amt auszuharren, auch als „unverwüstlicher Terminator“ verspottet. Im Unterhaus also versprach sie, unterbrochen von höhnischem Gelächter, bei der EU weitere Zugeständnisse zu fordern. Wochenlang hatte sie verkündet, der vorliegende sei „der beste und finale Deal“.

Ohnehin wird sie kaum die Bedenken der Kollegen ausräumen können. Insbesondere der sogenannte Backstop, eine Garantie für eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, hat sich zur Glaubensfrage auf der Insel entwickelt. Etliche glühende Brexit-Anhänger fürchten, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene Notfalllösung Großbritannien auf Dauer zu eng an die EU bindet. Sie betrachten den Backstop als Verrat am Königreich. May brach nichtsdestotrotz zu einer Charme-Offensive in Richtung Kontinent auf – um den zwischen London und Brüssel ausgehandelten Deal zu retten? Oder vielmehr ihre eigene Haut?

Zunächst zum niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte nach Den Haag. Am Mittag traf sie sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Auf beiden Stationen bekam sie jedoch versichert, dass das vorliegende Brexit-Paket nicht wieder aufgeschnürt werden könne. „Es wird keine Nachverhandlungen geben“, sagte Merkel nach Angaben von Teilnehmern in der Sitzung der Unionsfraktion am Nachmittag – wenige Stunden, nachdem sie May getroffen hatte.

Beim EU-Gipfel ab Donnerstag sei es jedoch möglich, über zusätzliche „Sicherheiten“ zu sprechen, erklärte Merkel weiter. Dann könnte es insbesondere um den Umgang mit Nordirland bei einer möglichen Zollunion zwischen Briten und Europäern im Anschluss an den Brexit gehen. Bekannt wurde am Dienstag auch, dass die Abstimmung im Unterhaus bis zum 21. Januar nachgeholt werden soll. Der Ausstieg aus der EU soll am 29. März erfolgen.

Am Abend suchte May in Brüssel das Gespräch mit Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Dieser unterstrich die Position Merkels: „Es gibt überhaupt keinen Spielraum für Neuverhandlungen“, versicherte Juncker. Denkbar seien höchstens ein paar wohlklingende Worte als Begleitung. Was damit konkret gemeint ist, drückte Juncker so aus: „Natürlich gibt es Spielraum, den man intelligent nutzen kann, um weitere Klarstellungen und weitere Interpretationen anzuhängen.“ Gemeint sind beispielsweise beiderseitige Versprechungen, alles dafür zu tun, dass der von den britischen Abgeordneten so gehasste Backstop erst gar nicht zum Tragen kommt.

Die Situation, so sagte am Dienstag ein hochrangiger EU-Diplomat, sei „ausweglos“: „Das Vereinigte Königreich will zwar einen Brexit mit Deal, aber den Deal, den man hat, lehnen sie ab. Die Europäer wollen keinen Brexit, haben aber nun wenigstens einen Deal, den sie auf keinen Fall wieder hergeben werden.“ In dieser verfahrenen Lage rechnet in Brüssel niemand damit, dass ein paar kosmetische Worthülsen einen Durchbruch für diesen Deal sichern könnten. „Die wollen Theresa May nichts geben, sondern sie mit einem Kopftätscheln und einem ‚Es wird alles gut’ wieder nach Hause schicken“, sagte der EU-Diplomat schmunzelnd.

Der ehemalige britische Premier John Major rief dazu auf, die Austrittserklärung zurückzunehmen. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof dies als einseitigen Schritt Londons bis zum 29. März als möglich erklärt. Auch der irische Premier Leo Varadkar forderte die britische Regierung dazu auf, den Brexit-Prozess auszusetzen.

Manche Beobachter verglichen Mays Europa-Tournee mit einer Flucht. Etwa vor dem Oppositions-Chef von Labour, Jeremy Corbyn, der plant, „zu gegebener Zeit“ einen Misstrauensantrag zu stellen. Mehr aber noch vor ihrer konservativen Partei, in der mittlerweile nicht mehr nur die Brexit-Hardliner ihre Vorsitzende stürzen wollen. Auch viele Kollegen, die sich in der Vergangenheit loyal gegenüber May zeigten, haben das Vertrauen in die Premierministerin verloren. „Sie wird bis Weihnachten Geschichte sein“, sagte ein ehemaliger May-Unterstützer gegenüber britischen Medien.

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