Großbritannien nach dem Brexit-Votum Das Land der tiefen Gräben

Das Königreich Großbritannien durchziehen tiefe Gräben. Der Brexit ist ein Phänomen des Alters und der Schicht. Jüngere, besser Gebildete wollten von dem EU-Austritt nichts wissen. Ein Stimmungsbild.

Es ist wirklich passiert. Bevor Big Ben zur neunten Stunde des 24. Juni geschlagen hatte, war Großbritannien ein anderes Land. Kurz vor sechs Uhr morgens hallte bereits ein anderer, ein folgenschwerer Glockenschlag über die Insel, der die ganze Nation aufwecken sollte: Das Vereinigte Königreich hat sich in dem historischen Referendum gegen die Mitgliedschaft in der EU entschieden. Den Brexit, es gab ihn zum Frühstück.

Kurz darauf kündigt Premierminister David Cameron seinen Rücktritt an. Das Pfund stürzt schon krachend ab. In Ministerien eilen Regierungsangestellte wie Geister durch die altehrwürdigen Gänge.

Während auf der einen Seite die Sieger die „Demokratie und Souveränität feiern“, äußert sich auf der anderen die Sprachlosigkeit der Verlierer in stammelnden Sätzen. Die Reporter versuchen ob des Unfassbaren die Fassung zu bewahren. „Es wird Geschichte geschrieben“, sagt eine Journalistin hilflos in ihr Mikro. Auf den Straßen Londons, Liverpools und Birminghams kommen derweil außergewöhnlich viele Menschen zusammen und wedeln mit einer Union-Jack-Flagge. „Wir haben unsere Souveränität zurück“, ruft ein Mann mittleren Alters im Freudentaumel und „Leave“-T-Shirt. Eine Passantin, sie sei 27 und heiße Katrina, sagt sie, bleibt stehen, holt tief Luft und schreit voller Wut: „Ihr zerstört unsere Zukunft.“ Der Ärger prallt am britischen Jubel ab. Doch die Wut und Frustration ist an vielen Orten zu spüren. „Das ist eine Katastrophe und vielleicht wache ich morgen aus diesem Alptraum auf“, flucht die Londonerin Lucy Hann.

Um halb neun Ortszeit tritt David Cameron aus der Tür mit der Nummer 10 und vor die Kameras, begleitet lediglich von seiner Frau Samantha, deren Gesichtsausdruck bereits verrät, was kommen sollte. David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Ein bisschen zu laut und zu schnell wendet er sich an seinem schwarzen Freitag an die Bevölkerung: „Der Wille des britischen Volkes ist eine Anweisung, die befolgt werden muss.“ Nur denke er nicht, dass er „der Kapitän sein sollte, der das Land zu diesem neuen Ziel steuert“. Seine Stimme klingt von Tränen verwässert, als er ansetzt: „Ich liebe dieses Land und ich fühle mich geehrt, ihm sechs Jahre lang als Premierminister gedient zu haben.“

Was für ein tiefer Fall dieses David Cameron, der vor 13 Monaten noch an derselben Stelle stand und voller Stolz den überraschenden Gewinn der absoluten Mehrheit bei der Parlamentswahl feierte. Doch der Tory-Chef lässt gestern eben einen wichtigen Aspekt aus. Dass es überhaupt ein Referendum gab, hatte allein er zu verantworten. Um die rebellischen Europaskeptiker in den eigenen Reihen zu beruhigen, die seit Jahren zumindest eine harte Hand gegenüber Brüssel, aber am liebsten gleich den Austritt aus der Union forderten, versprach er die Volksabstimmung. Nun geht er in die Geschichte ein als jener Premier, der um den Aufstieg der EU-feindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip zu bremsen, aber vor allem wegen innerparteilichen Querelen die EU-Mitgliedschaft verzockt hat.

Wer wird David Cameron beerben? Seit Wochen im Gespräch, auch weil er sich ständig selbst ins Gespräch bringt, ist Boris Johnson. Der Ex-Bürgermeister Londons und Wortführer der Brexiteers orchestriert am Freitag wie gewohnt seinen Auftritt. Stundenlang harren Reporter vor seinem Londoner Haus aus. Als sich die Tür endlich öffnet, huscht er im Schutz der Polizei ins Auto, etliche Briten, die auf ihn gewartet haben, beschimpfen ihn als „Abschaum“.

Auf der Pressekonferenz wählt er dann staatsmännische Worte. „Wir können Europa nicht den Rücken zuwenden, wir sind Teil Europas“, sagt Johnson, dem in den vergangenen Wochen immer wieder Opportunismus vorgeworfen wurde, weil er sich „aus politischem Kalkül“ für das Brexit-Lager entschieden habe. Boris, wie die Briten ihn nur nennen, will sich offenbar für das höchste Amt empfehlen: „Wir können all jenen, die versuchen, Einwanderung für ihre politischen Zwecke einzusetzen, den Wind aus den Segeln nehmen.“ Die linksliberale Presse meint, sich verhört zu haben. Immerhin war es der brillante Rhetoriker Johnson, der mit Hitler-Vergleichen völlig überdrehte. Noch kurz, bevor die Wahllokale schlossen, konnte er nicht genug den „Unabhängigkeitstag“ beschwören, welcher der 23. Juni künftig sein solle. Endlich wieder die Kontrolle zurückerlangen. Über die Grenzen. Die Einwanderer. Gesetze und Vorschriften. Die Wirtschaft.

Doch er weiß, er muss sich nun von Rechtspopulisten distanzieren, will er in die Downing Street einziehen. Und so durfte seine Äußerung als Zeichen an Nigel Farage verstanden werden, den Chef der EU-Feinde. Der konnte sein Glück kaum fassen und feierte sich schon vom frühen Morgen an als Gewinner. Er traf er bei zahlreichen Briten den richtigen Nerv: das Reizthema Immigration. Gleichwohl zieht er schon am Morgen das zentrale Brexit-Versprechen zurück. Während der Kampagne hieß es, 350 Millionen Pfund sollten statt wöchentlich an die EU ins Gesundheitswesen fließen. Die Zahl sei falsch, rudert Farage im Frühstücksfernsehen zurück. Die Party lässt er sich durch solche dreist kassierten Versprechen nicht verderben.

Überdurchschnittlich viele ältere Männer unterstützten den Brexit, hinzu kamen weniger gut ausgebildete, unzufriedene Briten mit Angst vor Immigration, Jobverlust und der Zukunft. Das Votum war eine „Revolte der Arbeiterklasse“. Die Verlierer der Globalisierung haben die Gewinner überstimmt. Auf der europafreundlichen Seite standen mehrheitlich jüngere, wohlhabendere, gebildetere Menschen. Und so überrascht es kaum, dass eine Statistik der YouGov-Meinungsforscher aufzeigt, wie die Älteren über die Zukunft der Jungen bestimmt haben. Hätten nur die unter 50-Jährigen votiert, wäre Großbritannien in der EU geblieben. Unter den 18- bis 24-Jährigen haben sich sogar 75 Prozent dafür ausgesprochen.

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