Deutschland/Türkei Berlin erwägt Reisewarnung für Türkei

BERLIN · Mit der Verhaftung eines deutschen Menschenrechtlers erreicht das Verhältnis zu Ankara einen neuen Tiefpunkt. Außenminister Gabriel bricht seinen Urlaub ab.

Der Urlaub: erst einmal unterbrochen. Der jüngste Tiefpunkt im deutsch-türkischen Verhältnis verlangt den Außenminister in Berlin. An diesem Donnerstag wird Sigmar Gabriel zurück sein. In den vergangenen Tagen standen Außenminister und Bundeskanzlerin wegen der Festnahme des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner in der Türkei permanent in Kontakt.

An Gabriels Dienstsitz ließ sich am Dienstag derweil ein Besucher vorfahren, „der den Weg ins Auswärtige Amt schon ganz gut kennt“, wie es dort heißt. Die Problemliste ist lang: Besuchsverweigerung für deutsche Abgeordnete auf türkischen Luftwaffenstützpunkten, erst Incirlik, jetzt Konya, Festnahmen deutscher Journalisten, Beschneidung von Presse- und Meinungsfreiheit, wüste Nazi-Beschimpfungen auf das heutige Deutschland.

Der türkische Botschafter in Deutschland, Ali Kemal Aydin, war auf Weisung von Gabriel einbestellt worden, weil die Bundesregierung gegen die Inhaftierung Steudtners unmissverständlich protestierte. Noch am Abend zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Auftritt beim Sommerfest des Bundesleistungszentrums in Kienbaum bei Berlin dazu genutzt, die Verhaftung Steudtners wie auch der mit ihm Gefangenen zu verurteilen. Merkel: „Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Verhaftung absolut ungerechtfertigt ist. Wir verurteilen sie als Bundesregierung.“ Noch am Vorabend des G20-Gipfels hatte sich Merkel in Hamburg mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan getroffen. Ein Thema der Unterredung: die anhaltende Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und acht anderer Deutscher, die derzeit in der Türkei in Haft sitzen, darunter ganz frisch Menschenrechtsverteidiger Steudtner.

Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, betonte, dem türkischen Botschafter sei „klipp und klar“ gesagt worden, dass die Bundesregierung die Verhaftung Steudtners und seiner Mitstreiter nicht akzeptiere und „die unverzügliche Freilassung von Peter Steudtner und sofortigen, ungehinderten konsularischen Zugang“ fordere. Vorwürfe über Verbindungen zu terroristischen Organisationen seien „offensichtlich an den Haaren herbeigezogen“. Ebenso wenig verständlich sei, Journalisten wie Deniz Yücel und die ebenfalls Deutsche Mesale Tolu „in die Ecke von Terroristen zu stellen“. Der türkische Botschafter habe verstanden, „dass es uns ernst ist“.

Wann kommt eine Reisewarnung?

Inzwischen stehen auch sogenannte Vorbeitrittshilfen der EU an die Türkei, die den Weg des Landes in die Europäische Union unterstützen sollen, zur Debatte. Insgesamt stellt Brüssel nach Regierungsangaben in Berlin von 2014 bis 2020 etwa 4,45 Milliarden Euro bereit, damit sich die Türkei unter anderem bei Demokratie, Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit dem EU-Standard nähert. Diese EU-Vorbeitrittshilfen, von denen bislang nur ein kleiner Teil ausbezahlt worden sei, kämen nun auf den Prüfstand.

In Berlin wird offenbar auch darüber nachgedacht, ab wann nach den jüngsten Festnahmen und Provokationen die Schwelle erreicht ist, eine offizielle Reisewarnung für die Türkei auszusprechen. Solche Reisewarnungen – anders als Reisehinweise – gelten bislang für Länder wie Afghanistan, Libyen, Jemen und Irak, für Staaten also, in denen die Menschenrechtslage „schwach bis dürftig“ ist. „Und ich fürchte, da müssen wir die Türkei langsam einordnen“, so Außenamtssprecher Schäfer. Bislang rät das Auswärtige Amt allen Deutschen, die in die Türkei reisen, unter anderem, „sich von politischen Veranstaltungen und grundsätzlich von größeren Menschenansammlungen fernzuhalten“.

Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour sagte dem General-Anzeiger zur Türkei-Politik der Bundesregierung: „Leider müssen wir feststellen, dass die Bundesregierung durch permanentes Nachgeben gegenüber der Türkei in vielen Fragen die Messlatte heruntergesetzt hat. Erdogan ist so immer wieder ermutigt worden, Deutschland mit Respektlosigkeit zu begegnen. So ist Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor der Wahl in der Türkei zu Erdogan gefahren und hat sich dort mit ihm, aber mit niemandem der Opposition getroffen.“ Grünen-Chef Cem Özdemir forderte im Gespräch mit dieser Zeitung Gabriel und die Bundesregierung auf, „den Kuschelkurs mit der Türkei zu beenden“. Özdemir plädierte dafür, der Türkei wirtschaftspolitisch Daumenschrauben anzulegen. So sichere die Bundesregierung durch Hermesbürgschaften Geschäfte mit der Türkei in Höhe von einer Milliarde Euro pro Jahr ab.

„Neubürgschaften sollte die Bundesregierung nicht mehr übernehmen, solange die Türkei ihre Eskalationsstufe nicht aufgibt.“ SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann betonte: „Genug ist genug – es reicht!“ Erdogan führe die Türkei in eine Diktatur und entferne sich damit immer weiter von der EU. Wer deutsche Menschenrechtler oder Vertreter von Amnesty International „unter absurden Vorwürfen verhaftet, stellt sich gezielt außerhalb unseres Wertekonsenses“. Es sei falsch, dass Merkel „mit stets neuen diplomatischen Pflichtübungen den Eindruck erweckt, als ob Deutschland sich alles gefallen lässt“.

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