NRW-Ministerpräsident und früherer Kanzler Armin Laschet und Gerhard Schröder im Interview

"Wer keine Niederlagen erlebt, verglüht auch schnell", sagt Armin Laschet. Der NRW-Ministerpräsident und der frühere SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder sprechen im Doppelinterview über ihre politische Vergangenheit, die SPD und die AfD.

 Bester Laune beim Interview: Armin Laschet (l.) und Gerhard Schröder.

Bester Laune beim Interview: Armin Laschet (l.) und Gerhard Schröder.

Foto: Ralph Sondermann

Der frühere SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder bietet im Doppelinterview mit dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet die Wette an, dass Laschet CDU-Kanzlerkandidat wird. Die beiden sprechen auch über ihren eigenen Aufstieg, die Nöte der SPD und das Erstarken der AfD.

Schröder: Ich bin hier im Land geboren und aufgewachsen. Ich habe im Kreis Lippe meine Lehre als Porzellan-, Glas- und Haushaltswaren-Einzelhändler gemacht und beim TuS Talle Fußball gespielt. Nicht so schlecht, aber auch nicht so gut, dass ich Profi hätte werden können. Also blieb mir nichts anderes übrig als Bundeskanzler zu werden. (lacht)

Die Lipper sind ein bisschen später zu Nordrhein-Westfalen dazugekommen. Sie werden zerrieben zwischen den Westfalen und den Rheinländern. Mussten Sie deshalb in Niedersachsen Karriere machen?

Schröder: Nein, das war nicht der Grund. Ich bin nach Göttingen gegangen, um dort in einem Eisenwaren-Handel zu arbeiten und abends, so ab halb sieben noch zweieinhalb Stunden für die Mittlere Reife zu lernen. Ich bin dann wieder zurück nach NRW, weil mein Stiefvater starb und ich etwas näher bei meiner Mutter sein wollte. Ich habe in Weidenau und Bielefeld über den zweiten Bildungsweg Abitur gemacht. In diesen Jahren habe ich von einem Stipendium gelebt, das ich als Halbwaise vom Versorgungsamt bekommen habe. Ich konnte davon ganz gut leben. In den Semesterferien habe ich als Handlanger auf dem Bau gearbeitet, wenn Sie noch wissen, was das ist. Ich habe den Vogel getragen. Das war das Gerät, in dem der Mörtel drin ist, den man in die Tonne beim Maurer kippen musste. Eine interessante Erfahrung. Nach Niedersachsen hat mich dann später mein Studium und meine Arbeit als Rechtsanwalt in Hannover geführt.

Herr Ministerpräsident, war Ihr erster Job auch so hart?

Laschet: Nein, nicht körperlich. Ich war der Erste in der Familie, der nach der Schule studieren konnte. Das war in unserer Familie etwas Besonderes und der Weg entsprechend auch mal steinig. Mein Vater war ein so genanntes Mikätzchen, der vom Steiger aus dem Bergbau als Quereinsteiger in den Lehrberuf wechseln konnte.

Schröder: Das ist bekannt, das war nach dem Minister Mikat benannt, oder?

Laschet: Ja, er war CDU-Kultusminister unter Ministerpräsident Franz Meyers. Mein Vater hat nachts unter Tage gearbeitet und sich tagsüber an der Pädagogischen Hochschule zum Lehrer ausbilden lassen. Wir waren vier Kinder und die ZVS hat mich an die Universität in München eingeteilt, was schön war, aber auch teuer. Ich habe für 150 Mark pro Monat in einem Kloster gewohnt. Nebenbei habe ich kleine journalistische Beiträge geschrieben.

Zwei ungewöhnliche Aufsteigerkarrieren. Wäre das heute noch genauso möglich?

Schröder: Im Prinzip ja. Aber man muss wohl eingestehen, dass es heute schwieriger geworden ist. Unsere Gesellschaft hat sich ja etwa von der englischen oder französischen dadurch unterschieden, dass für uns damals Durchlässigkeit herrschte. Mein Eindruck ist, dass heute wieder mehr die Herkunft oder die berufliche Sozialisierung der Eltern darüber entscheidet, was man wird.

Laschet: Im europäischen Vergleich sind wir in Deutschland noch gut. In Frankreich ist das wirklich so, dass die Eliteschulen die politischen Eliten prägen. Auch die Politik in Großbritannien rekrutiert sich so. Die Karrieren von Boris Johnson und David Cameron haben in einem bestimmten Club in Oxford begonnen. Das ist bei uns nicht so. Die große Nachkriegs-Erzählung war, dass Aufstieg für jeden möglich ist. Und dass es den Kindern besser gehen soll als den Eltern. Ich habe vor zehn Jahren im Zusammenhang mit der Integration diesen Gedanken einer „Aufsteigerrepublik“ in einem Buch beschrieben. Das ist heute mehr denn je unser Auftrag. Das betrifft Zuwandererfamilien, aber auch viele deutsche Familien.

Warum bestimmt die soziale Herkunft den Weg so sehr in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt. Haben Ihre Parteien versagt?

Laschet: Es gibt viele Erfolgsgeschichten bei Zuwanderern. Nicht nur in der Politik. Auch in der Wirtschaft. Aber der Weg ist oft härter. Man nennt das Resilienz. Wer als Kind von Einwanderern es schafft, muss oft mehr leisten als jemand, der einen inländischen Hintergrund hat. Wir brauchen aber in einem Land mit Fachkräftemangel vor allem Menschen mit einem Abschluss.

Schröder: Angesichts des Arbeitskräftemangels und der Alterspyramide brauchen wir Zuwanderung. Wenn die Integration gelingt, ist das für die Gesellschaft also ein Vorteil. Aber dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Das ist der Grund, warum die Kanzlerin während der Flüchtlingskrise 2015 nicht hätte sagen sollen „Wir schaffen das“, sondern „Wir können das schaffen“. Denn die Herausforderung der Integration ist vor allem eine der Kommunen und Bundesländer, die finanziell so ausgestattet werden müssen, dass sie etwa für Wohnungen und eine ausreichende Zahl von Lehrern und Sozialarbeitern auch wirklich sorgen können. Vom Bund kommt da zu wenig.

Seit 2015 sind Millionen Menschen aus fremden Ländern gekommen, wir haben zugleich teilweise Probleme mit Zuwanderern in dritter Generation. Können wir alle integrieren und am Ende mehr Wohlstand schaffen?

Schröder: Wir können das und wir müssen es schaffen. Die Geschichte der Gastarbeiter lehrt uns, dass viele der Migranten bleiben wollen und bleiben werden. Aber es wird schwer, viele Flüchtlinge müssen erst alphabetisiert werden. Es sind ja nicht nur Zahnärzte und Ingenieure gekommen.

Damals hat der Daimlerchef von einem möglichen Wirtschaftswunder durch die Flüchtlinge gesprochen.

Laschet : Was am 4. September vor vier Jahren entschieden wurde, hatte nichts mit qualifizierter Zuwanderung zu tun, sondern es ging um die Grundfrage, ob wir, notfalls mit Gewalt, eine Grenze schließen, wenn Hunderttausende auf dem Wege sind. Die Grenzen waren ja seit 30 Jahren offen. Die Frage war: Können wir am Grenzübergang Freilassing in Bayern das europäische Flüchtlingsproblem lösen? Nein, das konnten wir nicht! Aber wir wollten von Anfang an die Zuwanderung steuern und die hohe Zahl ungesteuerter Zuwanderung wieder senken, um zu einer geordneten Zuwanderung zu kommen. Wir brauchen einerseits die Qualifizierten, um die wir werben müssen, und andererseits ein Asylrecht nur für die, die wirklich schutzbedürftig sind.

Das gelingt bis heute nicht.

Laschet: In diesem Prozess sind wir immer noch und es wurde bis heute schon viel geleistet, vor allem in unseren Städten und Gemeinden. Bei den Rückführungen derer, die nicht asylberechtigt sind, liegt Nordrhein-Westfalen an der Spitze der deutschen Länder.

Was hat zum Erstarken der AfD in den vergangenen Jahren geführt?

Schröder: Dort, wo etwa im Osten Deutschlands der Anteil von Asylbewerbern denkbar gering ist, ist der Widerstand am größten und die AfD nutzt das Thema erfolgreich, um Vorurteile zu mobilisieren. Ich bin oft gefragt worden, was ich als Kanzler damals anders gemacht hätte. Als sich die Flüchtlinge an der österreichisch-ungarischen Grenze stauten, hat Frau Merkel auf Bitten des österreichischen Kanzlers völlig richtig entschieden. Sie hatte Herz, aber keinen Plan. Das Problem war, dass wir danach nicht schnell genug zu einem geordneten Dublin-Verfahren zurückgekommen sind. also Asylbewerber in dem Land zu registrieren sind, in dem sie die Europäische Union betreten. Wir wussten nicht, wer genau nach Deutschland kommt. Da sind Fehler gemacht worden. Und man hätte viel früher den Aufbau eines europäischen Grenzschutzsystems vorantreiben sollen.

Laschet: Bei letzterem haben Sie recht. Und wir haben die Probleme in den Herkunftsländern unterschätzt. Auch Deutschland hat in den Jahren vor 2015 die Mittel für Flüchtlingshilfe vor Ort gekürzt, während der Bürgerkrieg in Aleppo eskalierte. Und der europäische Außengrenzschutz hätte mit Schengen erfolgen müssen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger von offenen Grenzen in Europa. Aber der zweite Teil, die Außengrenze schützen, das haben wir versäumt und damit die Griechen, die Italiener und die Spanier mit dieser Herausforderung alleine gelassen. Dublin-Verfahren heißt: Der Betreffende kommt hier rein, stellt seinen Antrag und dann entscheidet die Verwaltung. Du warst schon in Italien sicher also musst du nach Italien zurück. Das muss innerhalb von sechs Monaten erfolgen.

Das passiert ja nicht.

Laschet: Es passiert jetzt zunehmend.

Teilen Sie die Analyse, dass das Wiedererstarken der eigentlich tot geglaubten AfD an dieser Frage liegt?

Laschet: Naja, die AfD ist entstanden als Partei gegen die Eurorettung – ein ganz anderes Thema. Ich bin froh, dass wir an der Europäischen Währungsunion festgehalten haben und auch Griechenland im Euro gehalten haben. Es war vielleicht ein Fehler, dass man Griechenland schon zu Beginn des Euro damals hineingenommen hat. Das war in Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler.

Schröder: Aber alle Institutionen von der EU-Kommission bis zur Bundesbank haben das damals befürwortet, da konnten wir als Bundesregierung nicht nein sagen.

Laschet: Jedenfalls ist die AfD bei der Bundestagswahl 2013 nach der Eurorettung unter der 5-Prozent-Marke geblieben. Und dann haben sie durch 2015 einen neuen Schub bekommen, das ist so. Man muss aber sehen, dass die damalige Opposition aus Grünen und Linken in der Flüchtlingsfrage noch weitergehen wollte. Eine kritische Debatte im Bundestag zwischen Regierung und Opposition fand nicht statt. Diese Lücke hat die AfD genutzt. Inzwischen ist das Thema Flüchtlinge nicht mehr das dominierende Thema bei den Menschen.

Herr Schröder, wenn jeder vierte Wähler im Freistaat Sachsen die AfD wählt, besorgt Sie das oder ist das ein Sonderphänomen Ost?

Schröder: Es ist ein Sonderphänomen, keine Frage. Wir sollten besorgt sein, aber auch nichts dramatisieren. Denn rund 75 Prozent der Wähler in Brandenburg und in Sachsen haben nicht die AfD gewählt. Was wir erleben, ist eine Europäisierung des deutschen Parteiensystems. Früher gab es klare Rechts-Links-Fronten. Und Politiker wie Franz Josef Strauß haben die demokratische Rechte gut abgedeckt. Aber unsere Gesellschaft differenziert sich aus. Und es ist für eine Volkspartei schwierig dieser Ausdifferenzierung mit einem einzigen Programm politisch zu begegnen.

Die meisten Kandidaten für den Vorsitz ihrer Partei versuchen gerade die Linke noch links zu überholen?

Schröder: Ich mische mich da nicht ein. Nur soviel: Die SPD kann als Volkspartei nur erfolgreich sein und regierungsfähig bleiben, wenn sie die politische Mitte für sich gewinnt. Das ist 1998 und 2002 gelungen, 2005 mit immerhin 34,2 Prozent fast auch.

Herr Laschet, stimmt denn die Strauß-Linie noch, die extreme Rechte auszugrenzen, aber im Mitte-Rechts-Lager zu werben?

Laschet: Ich will jedenfalls das Ziel für die CDU nicht aufgeben, Volkspartei zu sein.

Also Mitte links bis Mitte rechts?

Laschet: Ja. Es hat der Demokratie der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte gutgetan, dass der Ausgleich in den großen Parteien stattfindet etwa zwischen Wirtschaftsvereinigung und Sozialausschüssen. Bundeskanzler Schröder hat mit der Agenda 2010 das Land modernisiert und die Union mit Helmut Kohl die europäische Einigung vorangebracht. Eine Zersplitterung einer Partei in sich bekämpfende Flügel tut der parlamentarischen Demokratie nicht gut.

Die CDU ist spürbar nach links gerückt, und die SPD sucht nach jeder Wahlniederlage erneut ihr Heil in noch linkeren Positionen.

Schröder: Es ist ein Irrweg, grüner werden zu wollen als die Grünen und linker als die Linken. Dann wird die SPD überflüssig. Beispiel Klimaschutz: Man muss klar Position beziehen, aber zugleich deutlich machen, dass die Ziele nur über die Zeitschiene durchgesetzt werden können, damit es keine sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft gibt. Der vernünftige Kohlekompromiss ist ein gutes Beispiel. Es bringt nichts, immer weiter im Hambacher Forst zu demonstrieren. Das ist Symbolik. Nur ein Konsens zwischen den großen Parteien kann etwas bewegen.

Laschet: In der Tat ist diese Vermittlung zwischen sehr pointierten Positionen für die Volksparteien wichtig. Das ist in den letzten Jahrzehnten gelungen in der sozialen Frage durch die soziale Marktwirtschaft und die Mitbestimmung, eine große Tradition hier in Nordrhein-Westfalen. Ein solches Modell gibt es nirgendwo auf der Welt. Bei der Umweltfrage müssen wir diesen nationalen Konsens erst noch hinbekommen. Die Umweltbewegung und die jungen Leute auf den Straßen wollen am liebsten so schnell wie möglich aus der Kohle raus.

Ihr CSU-Parteifreund Markus Söder auch.

Laschet: Er sagt 2030 – aber auf der Straße wollen viele ja sogar noch früher raus. Und im Osten gewinnt eine Partei ganze Regionen mit dem Argument, es gäbe gar keinen Klimawandel. Schon die Existenz des Problems wird unterschiedlich beantwortet.

Schröder: Das ist nicht nur im deutschen Osten so, das soll es auch in Amerika geben.

Laschet: Wir wollen die Klimaziele aus Paris erreichen. Aber wir haben auch die Sorgen der Menschen um die Industriearbeitsplätze und bezahlbaren Strom im Blick.

Diese Politik, für die Sie beide stehen – Maß und Mitte, Innovation und Gerechtigkeit, Ökologie und Ökonomie – scheint nicht mehrheitsfähig zu sein. Die große Koalition verliert seit Jahren, die Ränder erstarken.

Laschet: Das sehe ich anders. Die meisten Menschen denken so. Sie wollen Industriejobs behalten und trotzdem die Klimaschutzziele erreichen. Die Unzufriedenheit an der großen Koalition speist sich aus vielen Gründen und hat sich festgesetzt. Viele wollen etwas Neues. Und die Jamaika-Koalition wäre so etwas gewesen. Die Grünen wären halb so stark wie heute, weil sie in der Regierungsverantwortung auch Kompromisse hätten eingehen müssen.

Klein machen durch Umarmungsstrategie?

Laschet: In Verantwortung zu sein ist schwerer als Talkshows mit smarten Wohlfühlworten zu bespielen.

Herr Schröder, war diese große Koalition eine zu viel für die SPD?

Schröder: Nach der Wahl 2017 sind die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition merkwürdigerweise an der FDP gescheitert, die immer Regierungspartei sein wollte und ja im Grunde damit auch ihre Existenzberechtigung aufrechterhalten hat. Bundespräsident Steinmeier hatte damals keine andere Möglichkeit, als der SPD ins Gewissen zu reden. Der Eintritt in diese große Koalition war ein Akt staatspolitischer Verantwortung. Ob es dann innerhalb dieser Koalition so viele Reibungsverluste geben muss, ist eine andere Frage. Von der Regierung wird ja erwartet, dass sie funktioniert. Die Ergebnisse sind nicht so schlecht, aber der öffentliche Umgang miteinander hat viele abgeschreckt. Die öffentliche Wahrnehmung ist ebenfalls dürftig, das liegt natürlich auch an den Medien.

Natürlich.

Laschet: Unbedingt - Achtung, Ironie!

Wo Sie gerade bei Verantwortung sind, wenn es diese polarisierte Gesellschaft bei großen Themen wie Klima und Migration gibt, die ja gerade von großen Parteien gelöst werden könnten, dann bleibt als Erklärung nur noch ein Führungsproblem in Union und SPD. In der einen Partei schwächelt die Vorsitzende, die andere Partei hat gar keine Führung.

Laschet: Das ist Ihre Formulierung.

Schröder: Das muss er ja jetzt bestreiten.

Laschet: Es schwächelt niemand.

Warum gucken Sie dabei so abwesend aus dem Fenster?

Laschet: Ich habe die Staatskanzlei da unten gesehen. Da funktioniert es. (lacht) Im Ernst: Ich glaube, dass ein umfassendes Klimaschutzpaket die Handlungsfähigkeit der Koalition wieder demonstrieren kann. Diese Koalition kann auf eine Kernfrage, die das Land diskutiert, eine überzeugende Antwort geben. Und dieses Ergebnis dann auch zusammen vertreten und nicht gleich griesgrämig alles wieder kleinreden.

Die SPD will unbedingt die CO2-Steuer.

Laschet: Das Ziel muss doch sein, CO2 zu reduzieren. Über das Mittel muss man diskutieren können. Was soll die CO2-Steuer sein? Wenn wir die Mineralölsteuer erhöhen, zahlt der Reiche einfach mehr und der Pendler mit kleinerem Einkommen ist der Gekniffene. Wenn wir dann die Pendlerpauschale erhöhen, hat die Maßnahme keine Steuerungswirkung mehr. Am Ende gibt es nur mehr Geld beim Staat. Aus meiner Sicht kann nur ein Zertifikatesystem, bei dem ein CO2-Wert festgesetzt wird, der durch eine Bepreisung marktwirtschaftlich Maßnahmen zur CO-2-Reduktion anstößt, echte Wirkungen erzielen.

Herr Schröder, hätten Sie damals nicht besser eine ökologische Steuerreform mit echter Lenkungswirkung gemacht als die Rentenkasse aufzufüllen?

Schröder: Die Stabilisierung der Rentenkasse war wichtig. Aber die Reform hat auch eine ökologische Lenkungswirkung erzielt, nur nicht ausreichend. Eine große nachhaltige Steuerreform wäre heute sicher richtig. Eine CO2-Steuer einfach zusätzlich einzuführen, würde aber gerade diejenigen mit kleinen und mittleren Einkommen überfordern, die oft auf ihr Auto angewiesen sind. Das kann eine Gesellschaft zerreißen.

Wenn man sich die Umfragen anschaut, sind die Grünen jedenfalls längst Koch und die SPD Kellner, oder?

Schröder: Sie spielen auf eine Bemerkung an, die ich 1998 im Wahlkampf gemacht habe, um Teilen der Bevölkerung die Ängste vor einer rot-grünen Regierung zu nehmen. Manche verbanden Rot-Grün mit dem Ende der sozialen Marktwirtschaft. Inzwischen sind alle der Meinung, man kann mit den Grünen regieren. Vor allem die CDU will das ja. Insofern haben sich die Grünen in die Küche vorgearbeitet.

Lösen die Grünen die SPD als linke Volkspartei ab?

Schröder: Das glaube ich nicht, das wäre auch nicht vernünftig für die Stabilität dieser Republik. Wenn die Grünen erst mal regieren, entzaubern sie sich. Das war schon immer so. Sie müssen ja dann auch liefern.

Wir schauen hier auf Düsseldorf und die Staatskanzlei, Herr Laschet. Haben Sie Ihren Aufstieg Bundeskanzler Schröder zu verdanken?

Laschet: Nein, wieso?

Weil die Kritik an seiner Agenda 2010, die sie heute so loben, dazu geführt hat dass die CDU die Landtagswahl 2005 in NRW gewinnen und Sie Minister werden konnten.

Laschet: Es gab damals ein Wechselgefühl im Land nach 39 Jahren SPD-Regierung. Dies ist verstärkt worden durch einen bundespolitischen Trend. Insofern haben Sie, Herr Bundeskanzler, ein bisschen daran mitgewirkt.

Schröder: Unfreiwillig.

Herr Bundeskanzler, Sie haben nach der verlorenen Wahl den Bundestag aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen initiiert. Kann man in Deutschland nur mit NRW Kanzler werden oder bleiben?

Schröder: Das ist etwas übertrieben. Aber das größte Bundesland hat auch in der Bundespolitik immer eine bestimmte Bedeutung. Ich glaube nicht, dass die Agenda 2010 die Hauptursache für die Niederlage war, sondern die Tatsache, dass sich Teile der SPD von ihrer eigenen Regierungspolitik distanzieren. Wer sich selbst nicht vertraut, dem vertraut man nicht. Wenn wir zusammen mit den Gewerkschaften gestanden hätten, dann hätten wir auch die Früchte der Reformen einfahren können. Und die positiven Konsequenzen werden ja heute nicht bestritten. Man muss aber zu dem stehen, was man macht. Die SPD wäre heute in einer ganz anderen Position.

Haben Sie Ihre Entscheidung 2005 schon einmal bereut.

Schröder: Nein, überhaupt nicht. Man muss sich fragen, was ist politische Führung? Das heißt, man kämpft darum, sein Programm in der Regierung umzusetzen. Politische Führung bedeutet aber auch, in einer Frage von nationaler Bedeutung, wie es der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit 2003 war, gegen Teile der eigenen Partei oder der Bevölkerung Überzeugungen durchzusetzen. Und damit notfalls das Risiko einzugehen, Wahlen zu verlieren.

Sie haben dann nur knapp verloren und noch versucht, sich die Regierungszeit mit Angela Merkel zu teilen.

Schröder: Das war ein Vorschlag vom damaligen bayerischen SPD-Vorsitzenden Ludwig Stiegler. Mir war die Idee ganz sympathisch und ich hätte das auch gemacht, aber die CDU hat dann wohl die Gefahr erkannt, dass ich nach der ersten Hälfte der Legislaturperiode aus dem Amt in eine Neuwahl hätte gehen können.

Sie hätten das Amt nicht an Frau Merkel weitergegeben?

Schröder: Pacta sunt servanda. Aber man weiß ja nie, was in einer Koalition passiert. Man findet dann doch schon eine Möglichkeit.

Laschet: (lacht) Er hätte sie gefunden, deswegen hat die CDU das auch nicht akzeptiert. Der Stärkere in einer Koalition stellt den Regierungschef.

Wir erleben in der SPD reihenweise Absagen von prominenten Ministern und Ministerpräsidenten, die nicht als Vorsitzende antreten wollen. Sie haben am Zaun des Kanzleramts gerüttelt. Fassen Sie sich da nicht an den Kopf?

Schröder: Ich will zu den Kandidaten nichts sagen. Ich habe ja selbst als Kanzler darunter gelitten, dass die Altvorderen mir öffentliche Ratschläge gegeben haben. Aber generell kann ich sagen: Diese langwierige Form von Führungsfindung liegt mir nicht.

Der Zwang zu einer Doppelspitze ist nicht ihre Welt, oder?

Schröder: Ich glaube da wird der Versuch gemacht, etwas zu kopieren, was andere Parteien schon nicht immer als Erfolg erlebt haben. Man muss sich auf seine eigenen Stärken besinnen.

Wie sehr muss man ein Amt wollen, um es zu bekommen, Herr Laschet?

Laschet: Gute Frage. Ich glaube, wenn man in einen Wahlkampf geht oder wie hier in Nordrhein-Westfalen aus der Opposition heraus in die Regierung will, dann muss man das unbedingt wollen. Dann muss man eine Idee entwickeln, und sich dann treu bleiben und bis zuletzt kämpfen. Auch wenn es zwischenzeitlich schwierig wird. Die Menschen honorieren Politiker, die es ernst meinen und überzeugt sind.

Sie haben innerparteiliche Niederlagen erlebt, sind aber immer wieder zurückgekommen. Sind sie heute abgehärteter?

Laschet: Diese Erfahrungen stärken. Wer als Politiker keine Niederlagen erlebt, verglüht auch schnell. Im März 2017 lag die SPD bei 40 Prozent und wir bei 26. Und dann gab es viele Ratschläge, was ich jetzt tun und welches Thema wir hochziehen sollten. Wir sind konsequent bei den drei Themenschwerpunkten Innere Sicherheit, Bildung und wirtschaftliche Stärke geblieben. Und am Ende war es erfolgreich.

Herr Bundeskanzler, gibt es das Rezept in der Politik, wie man nach oben kommt? Sich treu bleiben?

Schröder: Ja, natürlich. Auch Helmut Kohl ist da ein gutes Beispiel, wie unerschütterlich er bis zuletzt die deutsche Einheit organisiert hat und dies vor allem deshalb umsetzen konnte, weil er Vertrauen in Frankreich, USA und Russland genossen hat. Was die Frage der Unbedingtheit angeht, kann ich nur zustimmen. Warum sollen Menschen jemanden als Regierungschef wählen, dem man anmerkt, dass er oder sie es gar nicht will.

Also Herr Laschet. Wollen sie unbedingt Kanzlerkandidat werden?

Laschet: Ich bin sehr gerne Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, da gibt es auch noch viel zu tun und über die Kanzlerschaft werden wir entscheiden, wenn der Zeitpunkt da ist.

Die Frage ist also offen?

Laschet: Das ist eine Binsenweisheit. Die Parteivorsitzende wird diesen Prozess führen und es ist verabredet, dass wir uns rechtzeitig vor der Wahl 2021 über einen Kandidaten oder eine Kandidatin verständigen.

Und ein NRW-Ministerpräsident ist qua Amt immer im Spiel.

Laschet: Sagte einst Johannes Rau.

Hat er nicht recht?

Schröder: Na klar hat er das. Es gibt in der CDU eine Debatte, ob die Vorsitzende geeignet ist. Das will ich nicht beurteilen. Mein Einfluss in der CDU ist ja begrenzt. Aber dass Armin Laschet hier als Ministerpräsident einen guten Job macht, ist offensichtlich und natürlich ist der nordrhein-westfälischen Regierungschef immer auch ein potentieller Kanzlerkandidat. Ich würde ein gutes Abendessen in diesem schönen Restaurant darauf verwetten, dass die CDU am Ende auf ihn zukommen wird.

Nur ein Abendessen, mehr nicht?

Schröder: Mehr kann ich mir nicht leisten, ich habe ja eine begrenzte Pension...

Man hört, Sie haben ganz lukrative Aufsichtsratsmandate.

Schröder: Gut, dann ist noch eine Flasche Wein drin.

Laschet: Gerhard Schröder hat in einem auf jeden Fall recht: Sein Einfluss auf Entscheidungen von CDU und CSU zur Kanzlerkandidatur ist extrem begrenzt.

Auf dem Petersburger Dialog haben Sie, Herr Laschet, von einer neuen Entspannungspolitik zu Russland und Formaten auf Augenhöhe gesprochen. Sind Sie mit Gerhard Schröder auch einig was die Russland-Politik betrifft?

Laschet: Ich habe auf dem Petersberg noch einmal daran erinnert, dass das, was heute viel gelobt wird, die Entspannungspolitik der 70er Jahre, nur zwei Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings eingeleitet wurde. Damals hat man in einer angespannten Lage mit einem totalitär kommunistischen System trotzdem Gesprächsfaden aufgebaut. Dann muss uns das doch auch heute möglich sein. Wir brauchen Russland für viele Fragen in der Welt. Aktuell übrigens auch beim Klimaschutz. Präsident Putin hat nun zugesagt, das Pariser Abkommen zu ratifizieren. Ein wichtiger Schritt. Und Frieden in Syrien wird es ohne Russland auch nicht geben. Es gibt viele Konflikte, wo wir vorankommen müssen, ohne dass wir unsere völkerrechtliche Position etwa zur Krim aufgeben. Da kann man Klartext reden und trotzdem auf anderen Feldern kooperieren und im Gespräch bleiben.

Also die Krim-Frage isolieren und an anderer Stelle Fortschritte erzielen?

Laschet: Wir müssen Probleme lösen, wo es möglich ist. Wir werden glasklar unsere völkerrechtliche Position zur Annexion der Krim aufrechterhalten, aber können trotzdem bei Bildung, Wissenschaft, in der Energiepolitik oder beim Klimaschutz zusammenarbeiten.

Herr Bundeskanzler, halten Sie Herrn Trump für gefährlicher als Herrn Putin?

Schröder: In solchen Kategorien sollte man nicht denken. Die Dämonisierung des einen wie des anderen verhindert doch eine vernünftige Außenpolitik. Herr Laschet hat recht, wenn es Positionen gibt, die unvereinbar sind, muss man an anderer Stelle weiterkommen.

Sie sind ja mit dem russischen Präsidenten befreundet. In Syrien leidet die Zivilbevölkerung in einem brutalen Krieg, auch russische Bomben töten Menschen. Zweifeln sie dann nicht mal an der Freundschaft oder rufen Herrn Putin an und sagen ihm: Das Sterben dort muss aufhören.

Schröder: Natürlich muss das Sterben aufhören. Aber so einfach ist es nicht. Es gibt dort einen Bürgerkrieg, der von vielen Mächten von außerhalb immer wieder befeuert wurde und wird. Der große Fehler des Westens in diesem Bürgerkrieg war, zu sagen, vor dem Beginn eines Versöhnungsprozesses muss Präsident Assad weg. Das kann aber nicht der Beginn, sondern muss das Ergebnis eines solchen Prozesses sein. Insofern haben mehrere Seiten ihre Interessen zu sehr in den Mittelpunkt gesetzt. Es ist nur möglich über eine rationale Außenpolitik weiterzukommen. Und was die Krim angeht: Ich habe eine andere Position dazu, aber man darf die Frage nicht verabsolutieren und versuchen Russland aus der Weltgemeinschaft auszugrenzen, wie es die USA gerade tun. Da dürfen wir uns nicht hineinziehen lassen, Europa muss seinen eigenen Weg gehen. Das gilt für mich übrigens auch für unser Verhältnis zu China.

Das klingt nach einer perspektivischen Äquidistanz von Europa zu USA und Russland.

Laschet: Bei der Krim muss ich Bundeskanzler Schröder widersprechen, da sind wir unterschiedlicher Meinung. Ich habe damals auch sehr mit ihm gehadert, als er im Bundestagswahlkampf vor dem Irak-Krieg auf den Marktplätzen gegen die USA polemisiert hat. Im Nachhinein muss ich sagen, er hatte bei seinem Nein zum Irak-Krieg recht. Das ganze Drama im Nahen Osten und das Erstarken des IS in der Region hat dort seine Anfänge. Dennoch sind unsere gemeinsamen demokratischen und liberalen Überzeugungen und die Werte des Westens das besondere Fundament der Beziehung zwischen den USA und Europa. Die USA sind transatlantisch unsere Verbündeten.

Die liberale Demokratie ist derzeit nicht gerade ein Exportschlager. Selbst in unserem Nachbarland Polen ist der Rechtsstaat in Gefahr. Und in Großbritannien regiert der Populismus. Wie gehen wir mit diesen Bewegungen um?

Schröder: Es gibt aber auch gesellschaftlichen Widerstand. In Polen sind Millionen Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen Einschnitte in den Rechtsstaat demonstriert. Ich denke, dass sich die Menschen am Ende immer für Wohlstand und Freiheit entscheiden werden und dafür auch kämpfen. Egal wo. Das sind gesellschaftliche Prozesse, bei denen es immer wieder Rückschläge gibt und die uns nicht schnell genug gehen. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen zu sagen, dass die liberale Demokratie ein Auslaufmodell ist. Diese Gefahr sehe ich nicht.

Letzte Frage an Sie Herr Schröder: braucht die SPD noch einen Kanzlerkandidaten?

Schröder: Natürlich, sie darf den Anspruch nicht aufgeben, den Regierungschef in Deutschland wieder zu stellen. Ich bin guter Hoffnung, dass dieser etwas schwierige Findungsprozess irgendwann abgeschlossen ist und dann auch wieder eine stärkere SPD sichtbar wird.

Gehen Sie mal zu einer Regionalkonferenz - nach Hannover oder so?

Schröder: Nein. Am Ende wählen sie mich noch zum Vorsitzenden. (lacht)

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