Ankara droht Demonstranten erstmals mit Armee

Istanbul · Die türkische Regierung hat der Protestbewegung erstmals mit einem Einsatz der Armee gedroht. Falls es nötig sei, würden auch die Streitkräfte eingreifen, sagte Vize-Regierungschef Bülent Arinc am Montag vor Fernsehkameras. "Die Polizei ist da. Wenn das nicht reicht, die Gendarmerie. Wenn das nicht reicht, die türkischen Streitkräfte", fügte er am 18. Tag der Proteste hinzu. Die Regierung werde alles Nötige unternehmen, um das Gesetz durchzusetzen. Am Montag gingen auch mehrere Gewerkschaften auf die Straße.

Die landesweite Protestwelle hatte sich an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park entzündet, das am Wochenende zum zweiten Mal geräumt wurde. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne mit Wohnungen, Geschäften oder einem Museum. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Für Montag hatten zwei Gewerkschaften und mehrere Berufsverbände zu Streiks und Demonstranten aufgerufen. Die Polizei hielt die Protestierer am Nachmittag davon ab, zum Taksim-Platz zu gelangen. Im Istanbuler Stadtviertel Osmanbey setzten Polizisten erneut Tränengas ein.

Innenminister Muammer Güler drohte Internet-Aktivisten sowie Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes, die sich an Streiks oder Demonstrationen beteiligen, mit verschärfter Strafverfolgung. Wer Meinungsmache betreibe und zu Demonstrationen über Twitter und Facebook aufrufe, werde verfolgt. In den Vorwoche hatte es schon mehrere Festnahmen gegeben.

In Ankara setzten Sicherheitskräfte in der Nacht Wasserwerfer und Tränengas gegen Gegner der Regierung Erdogan ein. In Istanbul hinderte die Polizei Zehntausende Demonstranten gewaltsam daran, zum Taksim-Platz zu ziehen. Aktivisten berichteten, die Polizei habe auch ein Krankenhaus in der Nähe des Taksim-Platzes mit einem Wasserwerfer angegriffen, nachdem sich Demonstranten dorthin geflüchtet hatten.

Die Polizei hatte zuvor bereits bei den heftigen Protesten nach der Räumung des Gezi-Parkes Hunderte Menschen festgenommen. Allein in Istanbul seien mindestens 441 Menschen in Gewahrsam, zitierten türkische Medien einen Mitarbeiter der Rechtsanwaltkammer (TBB).

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte, die Sicherheitskräfte in Istanbul seien aus ihrer Sicht "viel zu hart vorgegangen". Vor ihrer Abreise zum G8-Gipfel der großen Industrienationen und Russlands sagte Merkel dem Fernsehsender RTL: "Das, was im Augenblick in der Türkei passiert, entspricht nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration, der Meinungsäußerung." Zu den Fernsehbildern von der Räumung des Gezi-Parks in Istanbul sagte sie: "Ich bin erschrocken, wie viele andere Menschen auch."

Die Angriffe der Polizei auf Journalisten und Festnahmen von Reportern gefährdeten die Meinungsfreiheit in der Türkei, kritisierte die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Dunja Mijatovic. Sorge mache auch, dass es Geldstrafen für Sender gegeben habe, die ausführlich über die Proteste berichtet haben.

Erstmals sollen in Istanbul Erdogan-Anhänger Demonstranten attackiert haben. Aktivisten der Opposition berichteten im Internet, dass die Demonstranten auch von Männern mit Knüppeln und Messern angegriffen worden seien. Diese Bewaffneten hätten Parolen für Erdogan gerufen, die Polizei habe nicht eingegriffen. Anhänger der Regierung attackierten nach Medienberichten auch ein Büro der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) in Istanbul.

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), forderte Erdogan zur Einhaltung demokratischer EU-Standards auf. "Erdogan muss wissen, dass die Türkei der Europäischen Union beitreten möchte und nicht umgekehrt", sagte Schulz dem "Hamburger Abendblatt". Derzeit erfülle die Türkei die Kriterien eines demokratischen Rechtsstaats nicht. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU müssten weitergehen: "Wenn Europa sich jetzt von der Türkei abwenden würde, wäre das fatal. Wir müssen in jedem Fall die Gespräche aufrechterhalten."

Ähnlich äußerte sich auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Er sagte dem "Tagesspiegel", falls die EU darauf verzichte, wie geplant Ende Juni ein weiteres Verhandlungs-"Kapitel" mit der Türkei zu eröffnen, wäre das eine "Niederlage für das türkische Volk".

Der Hamburger Filmregisseur Fatih Akin ("Gegen die Wand") rief den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül in einem offenen Brief auf, die Gewalt in seinem Land zu beenden. "Ich appelliere an Ihr Gewissen: Stoppen Sie diesen Irrsinn!", heißt es in dem auf Deutsch und Türkisch verfassten Schreiben.

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