Nach dem Ende der Sondierungsgespräche Wie es zum Ende von Jamaika kam

Berlin · Die FDP lässt mit ihrem überraschenden Ausstieg aus Sondierungsgesprächen konsternierte Unionsparteien und Grüne zurück. Der wahre Grund für ihren Rückzug bleibt rätselhaft.

 Beifall für Angela Merkel: Nach der gescheiterten Sondierung stellen sich die Unions-Unterhändler hinter die Bundeskanzlerin.

Beifall für Angela Merkel: Nach der gescheiterten Sondierung stellen sich die Unions-Unterhändler hinter die Bundeskanzlerin.

Foto: picture alliance / Bernd von Jut

Hans Michelbach ist dann doch vor die Tür getreten. 23.20 Uhr. Die meisten Unterhändler der Jamaika-Sondierungen sind bereits zum zweiten, manche auch zum dritten Mal am Buffet der baden-württembergischen Landesvertretung, was sich durch die Riesenglasfront von außen wunderbar beobachten lässt. Stressessen. Die Lage unter den möglichen Partnern, die gut 30 Minuten später keine mehr sein werden, ist zu diesem Zeitpunkt weiter unübersichtlich.

Noch ist in dieser Stunde vor Mitternacht nicht absehbar, dass es gleich ganz dicke kommt. Ausstieg der FDP mit Pauken, Trompeten und Christian Lindner. Vorher aber schnappt CSU-Unterhändler Michelbach frische Luft. Sofort gehen Kameralichter an. Er genießt die volle Aufmerksamkeit der knapp 100 Journalisten. „CDU und CSU sind zuversichtlich, dass wir noch etwas hinbringen“, sagt Michelbach und zieht dann einen Zettel aus der Sakkotasche.

Und siehe da, so erzählt er jedenfalls, beschlossen sei, den Soli in mehreren Schritten bis 2021 komplett abzubauen. Eine zentrale Forderung der FDP wäre damit erfüllt: zu 100 Prozent. Außerdem hätten die Grünen „bei den Drittstaaten“ zugestimmt. Welche? „Tunesien, Algerien und Marokko.“ Die Agenturen verschicken „Eil“-Meldungen.

Eine halbe Stunde später

Minuten später kommt Michelbach noch einmal vor die Tür. Er müsse dies jetzt alles wieder zurückziehen. Wie bitte? Es sei „nicht verifiziert“. Schließlich hatten sich die Jamaikaner auf die Formel verständigt: Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist. Eine halbe Stunde später lässt Lindner Jamaika platzen.

Am Ende eines sehr langen Tages und einer sehr aufreibenden Nacht werden CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer um 1.17 Uhr sagen, dass eine Einigung „zum Greifen nah“ gewesen sei. Hinter ihnen stehen die versammelten Unterhändler der Unionsparteien.

Natürlich ist dies ein Zeichen, dass sie ihre Vorsitzenden in dieser für beide existenziellen Stunde nicht allein lassen. Sie applaudieren demonstrativ. Thomas Strobl hat Tränen in den Augen, Ursula von der Leyen ist kreidebleich vor Müdigkeit. Spuren einer sehr schwarzen Nacht. Seehofer sagt: „Danke, Angela Merkel für diese vier Wochen.“ Ihre Antwort geht im Applaus unter: „Bitte nicht noch einmal.“ Daneben stehen die Grünen. Sie wirken ebenso verdattert, konsterniert und enttäuscht wie viele bei CDU und CSU.

„Bis an die Grenze und darüber hinaus“

Irgendwie verströmen Schwarze und Grüne in der Landesvertretung des Grünen-Hausherrn Winfried Kretschmann, der im Südwesten eine grün-schwarze Regierung führt, in diesen Minuten nach dem großen Gong, nach dem Auszug der FDP, eine gewisse Eintracht. Beide, Union wie Grüne, betonen, dass sie „bis an die Grenze und darüber hinaus“ gegangen seien, um eine Jamaika-Koalition zu ermöglichen.

Kretschmann schüttelt den Kopf. Ob er wütend sei? „Keine Wut. Ich bin einfach maßlos enttäuscht.“ Die Grünen-Fraktionsvize Katja Dörner sagt nach dem Abgang der FDP: „Ich habe mir noch heute Morgen nicht vorstellen könnte, dass es scheitert.“ Die Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir sprechen zu dieser Nachtstunde viel von „Verantwortung für unser gemeinsames Land“, Özdemir schiebt noch hinterher: „Man kann es auch Patriotismus nennen.“

Eine Vokabel, die bei den Grünen vor geraumer Zeit noch heftigen Widerspruch auf Parteitagen ausgelöst hätte. Göring-Eckardt wie Özdemir danken ausdrücklich Merkel wie Seehofer für die Zusammenarbeit in den vergangenen vier Wochen, für deren Willen, eine Jamaika-Koalition im Bund auf die Beine zu stellen.

Merkel und Seehofer gegen Abbruch

Noch am Sonntagvormittag, so erzählen es Unionsleute wie Grüne, habe Lindner in einem Gespräch mit Merkel und Seehofer versucht, die Chefs von CDU und CSU dazu zu bewegen, die Sondierungen gemeinsam platzen zu lassen. Der Schwarze Peter wäre dann bei den Grünen gewesen. Doch Merkel wie Seehofer hätten sich geweigert. Spätestens von da an sei der von der FDP vermittelte Eindruck, wonach die Liberalen weiter eine Einigung bei Jamaika versuchten, nur noch Showkulisse gewesen.

Grünen-Chef Özdemir erzählt am Tag danach, sowohl er wie auch Göring-Eckardt wie auch Merkel und Seehofer hätten Lindner in dieser Stunde vor Mitternacht gefragt: „Dann nennen Sie uns bitte den Grund, warum Sie aussteigen?“ Doch Lindner habe keinen konkreten Grund genannt. Der FDP-Chef habe nur in allgemeiner Form, so wie er es wenig später in die Mikrofone und Kameras vor der Landesvertretung Baden-Württemberg von einem Zettel abliest, auf das „insgesamt mangelnde Vertrauen“ hingewiesen.

Darauf, dass diese vier Partner schon für absehbare Vorhaben keine ausreichende Basis hätten. Was erst, wenn unvorhergesehene Ereignisse Jamaika auf eine harte Probe stellen? So wiederholt es Lindner auch am Tag danach: „Es gab nicht den gemeinsamen Weg, es gab nicht das Vertrauen der Akteure insgesamt.“

Merkel zu Besuch bei Steinmeier

Seehofer konstatiert: „Das ist eine Belastung für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt.“ Özdemir sagt: „Die FDP hat eine schwierige Lage noch schwieriger gemacht.“ Merkel sagt an einem „wirklich (...) historischen Tag“ in einer Mischung aus bewegt, gelassen und schon wieder im nächsten Krisenmodus: „Und jetzt müssen wir trotzdem mit den Tatsachen umgehen.“ Was nun, Frau Merkel?

Die Bundeskanzlerin wirkt am Tag danach gefasst, beherrscht, obwohl eine Lage eingetreten ist, „die es in fast 70 Jahren so noch nie gegeben hat“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt. Die Bundeskanzlerin war am Mittag beim Bundespräsidenten. Meinungsaustausch unter Verfassungsorganen. Am Abend sagt sie im ZDF auf die Frage, ob in der Nacht des Scheiterns von Jamaika für einen Moment ein eigener Rücktritt für sie Thema gewesen sei? „Nein, das stand nicht im Raum. Ich glaube, Deutschland braucht nun Stabilität.“

Über Motive, warum die FDP letztlich ausgestiegen sei, will sie nicht spekulieren. „Das war dann offensichtlich die Gesamtbewertung der FDP. Ich finde, dass wir auf der Zielgeraden waren.“ Merkel will sich im Falle von Gesprächen mit der SPD keine Bedingungen diktieren lasse, beispielsweise ihren eigenen Rückzug: „Wenn man eine Koalition darauf aufbaut, dass man jemanden erpresst, da kann nichts Gutes daraus werden.“ Über eine Minderheitsregierung denke sie „sehr ungern“ nach. Deutschland brauche Stabilität. Für den Fall von Neuwahlen sei sie bereit, „weiter Verantwortung zu übernehmen“, also die CDU erneut in den Wahlkampf führen. Ob sie 2018 noch Bundeskanzlerin sein werde? Merkel trocken: „Ich werde mich drum bemühen.“

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