Afghanistan Wer das Land verlassen kann, gilt noch immer als Glückskind

Kabul · Für viele afghanische Familien ist die Flucht nach Europa die letzte Hoffnung in einer drei Jahrzehnte andauernden Reihe von Regimewechseln und Kriegen in der Heimat.

 Alltag in Afghanistan: Dorfbewohner müssen wegen Kämpfen zwischen Regierungsstreitkräften und Taliban fliehen.

Alltag in Afghanistan: Dorfbewohner müssen wegen Kämpfen zwischen Regierungsstreitkräften und Taliban fliehen.

Foto: dpa

Ahmed Z. packte seine Sachen und machte sich Richtung Australien auf den Weg, nachdem er zwei Selbstmordattentate überlebt hatte und bei einem dieser Anschläge schwer verletzt worden war. Shadab Qadari zog mit der gesamten Familie Richtung Deutschland, nachdem sein Vater das Haus verkauft hatte. Mohammed Naim Salozai wiederum setzte seine gesamten Ersparnisse aufs Spiel, weil alle Welt am Hindukusch von goldenen und vor allem friedlichen Zeiten in Europa träumte.

„In Afghanistan verlassen die Bewohner jeden Tag ihre Heimat. Manche bleiben woanders im Land, die meisten gehen in die Nachbarländer Pakistan und Iran“, stellte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in einer gemeinsamen Untersuchung mit dem „Afghanistan Analysts Network“ (AAN) fest, nachdem im vergangenen Jahr etwas mehr als 200.000 der weltweit Millionen von heimatlosen Afghanen auf dem alten Kontinent auftauchten.

„Für viele Familien ist die Flucht nach Europa lediglich ein neues Kapitel in einer schon drei Jahrzehnte andauernden Reihe von Regimewechseln, Kriegen, schwachen Regierungen und wirtschaftlicher Verzweiflung.“

Die trockene Zusammenfassung verschweigt nichts. Aber sie gibt kaum Einblick in die tiefsitzende Enttäuschung, die sich bei vielen Afghanen nach Jahrzehnten voller Rückschläge festgesetzt hatte. „Bist du verrückt“, fragte sogar eines der führenden Regierungsmitglieder in Kabul Anfang 2016 einen Verwandten, der nach jahrelanger Ungewissheit auf der Flucht beschlossen hatte, wieder nach Kabul zurückzukehren.

„Ich habe meinen Sohn nach Europa geschickt, als er noch ein Minderjähriger war,“ sagt ein 60-jähriger Familienvater in Kabul, „weil ich ihm eine gesicherte Zukunft verschaffen wollte.“ Der Junge bereichert Skandinaviens Sportszene heute als Ringer. Sein Vater investierte seit dem Einzug westlicher Truppen am Hindukusch im Jahr 2001 sein Einkommen in Landkäufe in Masar-i-Sharif, das trotz gelegentlicher Attacken der radikalislamischen Talibanmilizen immer noch als einer der ganz wenigen relativ sicheren Orte des Landes gilt.

Der Familienvater braucht keine finanziellen Engpässe zu fürchten. Aber er ist überzeugt: „Afghanistan besitzt keine Zukunft.“

Seit die Nato Ende 2014 aus Afghanistan abzog, ohne die Taliban entscheidend geschlagen zu haben, scheinen sich die düsteren Vorahnungen zu verwirklichen. Afghanistan gleicht zunehmend einem sich ständig verändernden Flickenteppich. Nahezu täglich ändern sich die Gebiete, in denen die Streitkräfte das Sagen haben und die Talibanmilizen vorrücken oder abziehen. Hinzu kommt der Terror, den sogenannte Arbakaimilizen verbreiteten – das sind von der Regierung geduldete Privatarmeen lokaler Kriegsfürsten, die auf eigene Faust und nahezu unberechenbar agieren.

In der Wirtschaft sieht es noch schlimmer aus als bei der Sicherheit. Seit dem Abzug westlicher Truppen bleiben die Kassen leer. Die Milliarden, die für den Unterhalt der Nato-Militärmaschinerie flossen, kommen nicht mehr ins Land. Afghanistan befindet sich finanziell auf Entzug, weil auch die Hilfsgelder, die von korrupten afghanischen Vertretern auf Konten in Indien und in Dubai geschafft wurden, angesichts der unsicheren Verhältnisse nicht an den Hindukusch zurückfließen.

„Wenn alles schiefgeht, bleibt immer noch der Weg nach Deutschland“, schrieb ein Taxifahrer in Kabul auf das Rückfenster seiner Droschke – trotz aller Enttäuschungen der vergangenen Jahre und verbitterter Berichte von zurückgekehrten Flüchtlingen.

Laut dem AAN-Experten Borhan Osman schlagen die unerfüllten Hoffnungen der vergangenen Jahre ausgerechnet bei Afghanistans Hoffnungsträgern in eine Ablehnung des Westens um. Hochschulstudenten, so fand er heraus, seien besonders anfällig für radikale Propaganda.

Viele Gruppen agitieren laut Osman mittlerweile offen für die Abschaffung der labilen und erfolglosen Demokratie am Hindukusch und plädieren für einen Staat unter religiöser, islamischer Führung.

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