Demonstrationen in Moskau Russlands Jugend begehrt auf

Moskau · Vor allem junge Leute sind es, die am Sonntag gegen das Regime in Moskau protestieren. Das reagiert mit Hunderten von Festnahmen auf die Demonstrationen.

 Nach der Demonstration: Einer von gut 1000 Verhafteten, der in Moskau in einem Polizeibus abtransportiert wird.

Nach der Demonstration: Einer von gut 1000 Verhafteten, der in Moskau in einem Polizeibus abtransportiert wird.

Foto: AFP

Auch am Tag danach ist nicht klar, wie viele Menschen an der Demonstration am Sonntag in Moskau teilgenommen haben. Nach verschiedenen Angaben waren es 7000 bis 25.000 Menschen. Auch über die Anzahl der Festgenommenen gibt es unterschiedliche Angaben. Während die Polizei von 600 Festnahmen sprach, teilte die Rechtsbeobachtungsgruppe OWD-Info mit, die Ordnungshüter hätten mehr als 1000 Menschen aus dem Verkehr gezogen. Das wäre postsowjetischer Rekord.

Der nationalliberale Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der zu der Demonstration aufgerufen hatte, landete schon nach zehn Minuten im Polizeibus. Ein Pensionär, der mit einem großen Pappschild gegen Premierminister Dmitri Medwedew demonstrierte, wurde weggeschleppt, andere Demonstranten befreiten ihn nach heftigem Gerempel. Auch andere Festnahmen eskalierten in regelrechten Schlägereien. Ein Polizist wurde schwer am Kopf verletzt, die Anzahl der verletzten Demonstranten ist nicht bekannt.

Augenzeugen redeten übereinstimmend von einer viel grimmigeren Stimmung als bei den genehmigten Kundgebungen der vergangenen Jahre. Auch der Stab von Nawalnys „Stiftung zur Bekämpfung der Korruption“, der die Demo live auf Youtube übertrug, wurde festgenommen, die Computer wurden abtransportiert, enge Mitarbeiter Nawalnys sagten, die Behörden ermittelten wegen „Extremismus“ gegen die Stiftung. Die Staatsmacht will offenbar keine Kompromisse mit der demokratisch gesinnten Opposition.

Ihre Justiz wird in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun haben, landesweit über 1500 Festgenommene mit Geldstrafen und Arresten zu belegen. Nawalny wurde zu 15 Tagen Haft und umgerechnet 325 Euro verurteilt, er hatte schon vor der Demo angekündigt, seine Stiftung werde jede Strafe vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Laut Bürgerrechtlern haben diese Beschwerden durchaus Chancen: „Nawalny hat die Kundgebung rechtzeitig angekündigt“, sagte der Menschenrechtler Lew Ponomarjow unserer Zeitung, „die Behörden schlugen ihm erst im letzten Moment kaum geeignete alternative Orte vor.“

Nawalny gab für die Kundgebung Parolen aus, die sich vor allem gegen Medwedew richteten. Dessen mutmaßlich korrupten Reichtum hatte Nawalny jüngst in einem Film enthüllt. Andere protestierten gegen Präsident Wladimir Putin und skandierten: „Impeachment, Impeachment.“ (Amtsenthebungsverfahren).

Im Gegensatz zu den liberalen Protesten 2011/12 ging auch die sogenannte Provinz auf die Straße. Laut Radio Echo Moskwy demonstrierten in 82 russischen Städten etwa 60 000 Menschen. In der Ein-Millionen-Stadt Perm etwa gingen 3000 bis 4000 Demonstranten auf die Straße. „Früher demonstrierten in solchen Städten höchstens 20 Leute“, sagte der Politologe Juri Korgonjuk. „Jetzt wurden sogar im dagestanischen Machatschkala 150 Leute festgenommen, wo es bisher Protest nur in Form von Schießereien gab.“ Russlands totgesagte Zivilgesellschaft wächst wieder.

Im sibirischen Tomsk ging vor etwa 1000 Demonstranten ein Fünftklässler ans Mikrofon. „Es ist nicht wichtig, wer die Macht hat. Nawalny oder Putin“, verkündete der Junge, „wichtig ist, das politische System selbst zu ändern, das Schul- und Gesundheitssystem.“

Nicht nur in Tomsk werden Schüler und Studenten laut. Auch Teilnehmer und Beobachter des Moskauer Protestes bemerkten erstaunt, dass etwa die Hälfte der Demonstranten jünger als 25 Jahre war. „Eine neue, politisierte und vor allem opponierende Jugend“, so Korgonjuk. Viele, die am Sonntag protestierten, haben in ihrem Leben nur einen politischen Führer gesehen: Wladimir Putin. Aber Putin und seine Ideenwelt scheint bei ihnen nicht mehr in Mode zu sein. Der Moskauer PR-Experte Grigori Naumow schließt nicht aus, dass die jugendlichen Protestler einen neuen Trend setzen könnten. „Selfies aus vergitterten Polizeibussen sind total cool, jeder der Festgenommenen gilt bei seinen Altersgenossen als Held. Dagegen sein, könnte Mode werden.“

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