Großbritannien vor dem Brexit Post aus London

London · Premierministerin Theresa May will an diesem Mittwoch den Startschuss für die Austrittsgespräche mit der EU geben. Britische Chefs sorgen sich nun um ihre EU-Mitarbeiter.

 Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reicht die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch offiziell die Scheidung von der EU ein.

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reicht die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch offiziell die Scheidung von der EU ein.

Foto: AFP

Es ist ein historischer Brief, den ein britischer Diplomat am Mittwoch Ratspräsident Donald Tusk in Brüssel überbringt. Absender: die britische Premierministerin Theresa May. Mit dem Schreiben beantragt die Regierungschefin formell den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Und damit tickt zumindest theoretisch die Uhr.

Artikel 50 des Lissaboner Vertrags bietet den Briten und den restlichen 27 Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, ein Prozedere für eine einvernehmliche Scheidung zu finden. Die Verhandlungen könnten sich jedoch viel länger hinziehen, wie schon jetzt Diplomaten, Politiker und Experten prophezeien. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Staatengemeinschaft, dass ein Land die Scheidung einreicht, und Verflechtungen aus 40 Jahren zu entwirren, dürfte sich zu einer Herkulesaufgabe entwickeln.

Die Briten stehen unter gehörigem Druck. Sie müssen wirtschaftspolitische Trennungslösungen mit Brüssel aushandeln, sonst steht das Königreich handelspolitisch vor einem Problem. Dass „kein Deal besser als ein schlechter Deal“ sei, wie es in den vergangenen Wochen aus Westminster hieß, sollte eine Warnung an Brüssel aussenden und Selbstbewusstsein fürs Volk ausstrahlen.

Hinter den Kulissen rudert die Regierung aber bereits zurück. May weiß, dass kein Abkommen mit der EU schwere Auswirkungen auf die hiesige Wirtschaft hätte. Ob sie weiterhin ihre kompromisslose Linie verfolgen wird, nach der Großbritannien sowohl aus der Zollunion austreten als auch die Mitgliedschaft im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt aufkündigen würde, zeigt sich in den nächsten Monaten. Großbritannien befindet sich in einer schwachen Verhandlungsposition.

Als einen der Trümpfe in der Hand betrachten zum Leidwesen der Betroffenen einige Politiker die mehr als drei Millionen EU-Bürger. May hatte zwar wiederholt erklärt, sie werde sich für einen Verbleib der auf der Insel lebenden Menschen aus anderen Mitgliedstaaten einsetzen. Garantien lehnte sie jedoch ohne entsprechende Zusagen für im EU-Ausland wohnende Briten ab. Es gehört zu den Themen, die auch Martin Knight umtreiben. Seit elf Jahren leitet der 49-Jährige in High Wycombe, nur eine halbe Zugstunde von der Hauptstadt entfernt, sein Architektenbüro „Knight Architects“. Der Brite baut Brücken. Und ist damit jemand, der Verbindungen schafft, wo bislang keine waren.

Dass nun Großbritannien mit dem EU-Austritt Brücken zum Kontinent einreißen will, trifft ihn schwer. „Es ist wichtig, Menschen aus Europa hier zu haben“, sagt er und zeigt in das Großraumbüro, wo in der Ecke 3-D-Modelle stehen und vor den Bildschirmen die kreativen Köpfe sitzen. Darunter: zwei Deutsche. Drei Spanier. Zwei Franzosen. Ein Italiener. Bis vor Kurzem gehörte eine Polin zum Team. Sie alle machen sich nun Sorgen um ihren künftigen Status im Königreich. „Es sind Menschen, die mir vertraut haben, und sie verdienen es, dass wir uns um sie kümmern“, so Knight. „Als Arbeitgeber und als Brite habe ich ihnen gegenüber eine Verpflichtung.“

Zudem will er seine Mitarbeiter schlichtweg nicht verlieren. Wie etliche Branchen, etwa der Bausektor, die Gastronomie oder das Gesundheitswesen, ist auch er darauf angewiesen, „hochqualifizierte Arbeitskräfte mit besonderen Fähigkeiten aus Europa zu rekrutieren“. Hinzu kommt, dass sich ein großer Teil des Geschäfts außerhalb der Insel abspielt. „Die EU ist unser größter Markt, insbesondere Deutschland.“

Ingenieure und Beratungsunternehmen sitzen auf dem Kontinent, die Beziehungen sind über Jahre gewachsen. Was wird der Brexit anrichten? „Zurzeit sind wir vorsichtig mit internationalen Wettbewerben.“ Die Ungewissheit sei einfach zu hoch. Er denkt darüber nach, in naher Zukunft eine Zweigstelle auf dem Festland zu eröffnen. Und steht damit nicht alleine da. Die Wirtschaftswelt hat Notfallpläne bereits in der Schublade, wie es heißt.

Das Europaparlament will Großbritannien trotz allem die Chance offenhalten, den EU-Austritt abzublasen. Dies stellte der Grünen-Brexit-Beauftragte Philippe Lamberts am Dienstag klar. „Je mehr man sich in die Sache vertieft, desto mehr fällt auf, dass dies den Interessen aller widerspricht“, sagt Lamberts. „Deshalb wollen wir die Tür nicht zuschlagen.“ Dies soll in einer gemeinsamen Resolution der großen Fraktionen in der kommenden Woche festgehalten werden.

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