Europäische Union Muss sich die Türkei vom EU-Beitritt verabschieden?

Brüssel · Das Aussetzen der Verhandlungen zwischen der EU und der Regierung in Ankara ist einfacher als angenommen.

 In der EU werden die Stimmen nach einem Stopp oder sogar einem Abbruch der Beitrittsgespräche immer lauter.

In der EU werden die Stimmen nach einem Stopp oder sogar einem Abbruch der Beitrittsgespräche immer lauter.

Foto: picture alliance / dpa

Massenverhaftungen in der Türkei, massive Verstöße gegen die Menschenrechte – in der EU werden die Stimmen lauter, die nach Konsequenzen rufen – beispielsweise einem Stopp oder sogar einem Abbruch der Beitrittsgespräche. Das ist einfacher, als selbst Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bisher zugeben wollte.

Könnte die EU die Bemühungen um Vollmitgliedschaft der Türkei einfach abbrechen?

Ja, möglich ist beides: ein endgültiger Abbruch aller Gespräche oder ein zeitweises Aussetzen der Verhandlungen. Der Kommissionspräsident hatte vor einigen Tagen für Verwirrung gesorgt, als er feststellte, dass dafür ein einstimmiger Beschluss aller 28 EU-Mitgliedstaaten notwendig wäre. Der ist tatsächlich Voraussetzung, wenn die Verhandlungen endgültig beendet werden sollen. Für einen (zeitweisen) Stopp reicht allerdings die sogenannte qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten aus. Das wären 16 Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bürger vertreten. Dies legen die Leitlinien für die Türkei-Beitrittsgespräche aus dem Jahr 2005 im Absatz 5 fest.

Wie viele Staaten wollen denn derzeit einen Stopp?

Vor allem der neue österreichische Bundeskanzler Christian Kern setzt sich dafür ein, nach der europäischen Sommerpause offen über ein Aussetzen der laufenden Verhandlungen zu reden. Unterstützt wird er vom Chef der größten Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), der die Christdemokraten anführt. Aber es gilt als sicher, dass sich weitere EU-Länder hinter den Vorstoß aus Wien stellen würden, wenn es zum Schwur kommt.

Könnten die EU-Staats- und Regierungschefs einen solchen Stopp einfach beschließen oder gibt es dafür Regelungen?

Die Leitlinien schreiben vor, dass die Gespräche ausgesetzt werden können, wenn die Türkei „ernsthaft und fortgesetzt die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der fundamentalen Freiheiten sowie die Rechtsprinzipien der EU verletzt“. Was das allerdings genau heißt, bleibt offen.

Gab es einen solchen Stopp der Verhandlungen schon einmal?

Ja, 2007 weigerte sich der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, das Verhandlungskapitel über die Wirtschafts- und Währungsunion mit der Türkei zu eröffnen. Seine Begründung lautete, die Türkei habe „keinen Platz in Europa“ und deshalb werde er über derart grundlegende Fragen nicht mit Ankara reden. Das Ergebnis war ein faktischer Abbruch der Gespräche, ohne dass es dafür einen formellen Beschluss gab.

Es heißt immer, die EU könne sich einen Stopp gar nicht erlauben, weil sonst der Flüchtlingsdeal hinfällig wäre. Ist das so?

Tatsächlich gehört die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen zu diesem so genannten Deal mit der türkischen Regierung, der angeblich zum Abebben des Flüchtlingsstroms geführt hat. Doch inzwischen wachsen die Zweifel, ob das wirklich so stimmt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) listet beispielsweise auf, dass die Türkei bisher lediglich ein paar hundert Flüchtlinge von Griechenland zurückgenommen hat. Und die EU hat wiederum keine 300 Menschen im Gegenzug einreisen lassen. Trotzdem gingen die Zuwandererzahlen fast auf Null zurück. Vor diesem Hintergrund erscheint der Spielraum der EU für Maßnahmen gegen Ankaras Verhaftungswelle sehr viel größer zu sein als bisher vermutet.

Welche Alternative gäbe es, wenn die Gespräche tatsächlich ausgesetzt oder beendet würden?

Da ist zum einen die so genannte privilegierte Partnerschaft, die vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel immer favorisiert hat. Dabei würden Ankara bestimmte Rechte eingeräumt, ohne ein EU-Mitglied mit allen Rechten zum Beispiel auf Fördermittel zu werden. Inzwischen diskutiert man in Brüssel auch offen über eine reine Handelspartnerschaft, also eine Art Freihandelszone. Dies wäre eine ökonomische Zusammenarbeit, ohne die Türkei zu zwingen, alle politischen und sonstigen Regeln der EU zu übernehmen.

Wäre damit auch die Visaliberalisierung vom Tisch?

Das muss nicht sein. Für die visafreie Einreise türkischer Staatsangehöriger gibt es ein unmissverständliches Abkommen. Es knüpft diese Freiheit an 72 Bedingungen, von denen Ankara rund 65 erfüllt hat. So lange aber nicht der vollständige Katalog in türkisches Recht übernommen wurde, werden Türken ein Visum brauchen, um in die Union reisen zu können.

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