Kommentar Mit Nebenwirkung

Meinung · Mehr Bürgerbeteiligung, mehr direkte Demokratie – das gilt einigen als Allheilmittel gegen politikverdrossene Bürger. Doch das ist ein Irrtum. Möglicherweise ist direkte Demokratie das Problem, das sich als Lösung ausgibt.

Bonn ist ein gutes Beispiel: Die Stadt wollte ein neues Bad bauen und bekam es mit zwei aufeinanderfolgenden Voten zu tun. Das erste bestimmte, dass in Bad Godesberg das Bad geschlossen bleibt. Das zweite legte fest, es würde aber auch kein neues geben. In vielen Städten kommt der Wohnungsbau zum Erliegen, weil sich gut organisierte Nachbarschaften per Bürgerentscheid ihre guten Lagen erhalten wollen. In Hamburg scheiterte vor wenigen Jahren die Schulpolitik an den Vorbehalten der Wohlhabenden und Gebildeten, die sich größerer Chancengleichheit verweigerten.

Das sind immer Einzelfälle. Aber sie zeigen, dass gut organisierte Partikularinteressen es schaffen, Entwicklungen zu blockieren, die sich eher am Wohl aller orientieren – gerne auch der sozial schwächeren Bürger.

In den Rathäusern ist man regelmäßig ratlos, weil es nach der Ablehnung eines Projekts meist nicht konstruktiv weitergeht. Niemand haftet politisch für die Folgen von Bürgerbegehren. Die gewählten Räte sind nicht minder überfordert. Sie müssen bei aller Abwägung immer damit rechnen, blockiert oder korrigiert zu werden. Nichts geht dann mehr voran. Mehr Bürgerbeteiligung in den Kommunen ist richtig und wichtig. Aber die Verantwortlichkeiten müssen klarer geregelt sein.

Und auf der Ebene des Bundes? Dort sind ähnliche Verwerfungen möglich, wenn der Bundestag nicht mehr verantwortlich wäre. Großbritannien und der Brexit demonstrieren eindringlich, was geschieht, wenn das eine nicht auf das andere abgestimmt wird. Das Volk entscheidet, die Volksvertretung und die Regierung scheitern an der Vorgabe. Vor allem knappe Ergebnisse spalten eine Gesellschaft tiefer als kontroverse Entscheidungen eines demokratisch gewählten Parlaments.

Direkte Demokratie öffnet überdies den Populisten Tür und Tor. Das war bereits in der Weimarer Republik der Fall, als die Nationalsozialisten auf der Welle eines Volksentscheids nach oben schwammen. Wer sich über eine breitere Beteiligung freut, sollte bedenken, dass es im Frühjahr 2016 leicht gewesen wäre, einen Volksentscheid gegen Flüchtlinge und Ausländer anzuzetteln. Die Polarisierung zurückzudrehen hätte Jahre gedauert. Es lohnt sich daher, etwas genauer nachzudenken. Auch Allheilmittel haben unerwünschte Nebenwirkungen.

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