Arbeitszeiterfassung in der EU Das bedeutet das Urteil des EuGH für Deutschland

Brüssel · Überstunden machen viele – aber längst nicht alle werden notiert. Der Europäische Gerichtshof fordert nun Erfassungssysteme für alle. Das könnte auch für Deutschland Folgen haben. Fragen und Antworten zur Arbeitszeiterfassung.

Völlig unterschiedliche Reaktionen hat am Dienstag das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Arbeitszeiterfassung in europäischen Unternehmen ausgelöst: Die EU-Mitgliedsstaaten müssten künftig sicherstellen, dass Arbeitgeber in Europa die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch erfassten, nicht mehr nur die Überstunden, urteilten die Luxemburger Richter. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) reagierte hocherfreut, DGB-Vize Annelie Buntenbach äußerte sich im Interview zur Erfassung der Arbeitszeiten. Die Arbeitgeber dagegen kritisierten das Urteil.

Welche Folgen könnte das Urteil in Deutschland haben?

Es könnte tatsächlich weitreichende Folgen auch für Unternehmen in Deutschland haben, obwohl es sich auf einen Fall in Spanien bezieht. Denn in vielen Branchen und vor allem in kleineren Unternehmen werden Arbeitszeiten bisher nicht systematisch erfasst. Das deutsche Arbeitsrecht schreibt zudem lediglich vor, dass Überstunden registriert werden müssen, nicht auch die reguläre Arbeitszeit. Würden Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, sämtliche Arbeitszeiten zu erfassen, könnte dies zunächst einen erheblichen zusätzlichen bürokratischen und kostenintensiven Aufwand bedeuten.

Wie sieht die gelebte Praxis in Unternehmen oft aus?

In vielen deutschen Unternehmen gilt die so genannte Vertrauensarbeitszeit: Demnach überlässt es der Arbeitgeber seinem Angestellten, die vereinbarte Arbeitszeit einzuhalten. Ob die Vertrauensarbeitszeit durch das Urteil gefährdet ist, beurteilen Arbeitsrechtler unterschiedlich. Doch selbst wenn sie mit dem EuGH-Urteil vereinbar ist, stärkt das Urteil die Arbeitnehmer und schwächt die Arbeitgeber: Da künftig alle Tätigkeiten als Arbeitszeiten genauer registriert werden müssten, etwa auch das berühmte Checken dienstlicher E-Mails außerhalb der regulären Arbeitszeit, dürften sich Arbeitnehmer künftig selbst in der Tendenz mehr Überstunden anrechnen, wenn die EuGH-Vorgabe zu gesetzlichen Änderungen auch in Deutschland führen würde. Müssten Betriebe künftig mehr Überstunden ausgleichen, gerieten viele von ihnen in Existenznot.

Wie reagiert die Bundesregierung?

Das EuGH-Urteil bezieht sich zunächst nur auf einen konkreten Fall in Spanien. Dort hatte eine Gewerkschaft gegen ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank geklagt, um sie zur Einführung eines Registriersystems für die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter zu verpflichten. In Spanien ist die bisherige Rechtslage aber ähnlich wie in Deutschland: In beiden Ländern müssen nur Überstunden aufgezeichnet werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, er wolle das Urteil prüfen und mit Gewerkschaften und Arbeitgebern besprechen, ob eine Anpassung des deutschen Arbeitszeitgesetzes notwendig wird.

Wie argumentieren die deutschen Gewerkschaften nach dem Urteil?

Bei den Gewerkschaften gibt es überraschenderweise keine einheitliche Linie, ob das Urteil den Beschäftigten nutzt oder schadet. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und der DGB haben den Richterspruch im Grundsatz begrüßt. Durch Überstunden würden sich Arbeitgeber innerhalb eines Jahres 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche wirtschaften, so der DGB. Die IG Metall sieht das völlig anders. Deren Hauptgeschäftsführer Oliver Zander beklagte, mit dem Urteil und der daraus folgenden Aufzeichnungspflicht sei die Vertrauensarbeitszeit „praktisch tot“. Das könne nicht im Sinne der Beschäftigten sein.

Wie bewerten Arbeitsrechtler das Urteil?

Dass das Urteil des EuGH auch in Deutschland umgesetzt werden könnte, hält der Düsseldorfer Arbeitsrechtsexperte Stefan Haas für durchaus möglich. „Das wäre ein riesiger Verwaltungsaufwand für alle Arbeitgeber“, sagt Haas. Die größte Frage wäre, wie die Arbeitszeit rechtssicher dokumentiert werden könne – also konform mit allen anderen Richtlinien der EU wie etwa dem Datenschutz. Gut sei die Entscheidung Haas zufolge für alle Arbeitnehmer, die auf Anerkennung ihrer Überstunden klagen. „Das ist einer der wenigen Bereiche, in denen der Arbeitnehmer vor Gericht im Nachteil ist“, betont der Anwalt. Die Klage scheitere nämlich oft schon auf der ersten Stufe. Der Arbeitnehmer müsse beweisen, dass er mehr als die übliche Regelarbeitszeit gearbeitet habe – und der Arbeitgeber davon wusste. Mit einer strikten Erfassung aller Zeiten sei dieser Beweis dann viel einfacher.

Welche modernen Formen der Arbeitszeiterfassung gibt es schon und welche sind in der Zukunft denkbar?

Wenn es sicher und einfach sein soll, sind Ausweise mit eingebauten Chips die aktuell gängigste Lösung. Diese lesen den Ausweis beim Betreten des Gebäudes automatisch ein. In Verbindung mit einer biometrischen Kontrolle – wie etwa dem Scan des Fingerabdrucks – kann zusätzlich gewährleistet werden, dass nur der entsprechende Mitarbeiter Zugang bekommt. Noch sicherer könnte es in Zukunft werden, wenn die Chips direkt unter die Haut verpflanzt werden könnten.

Auch mobil einsetzbar sind Handy-Apps zur Erfassung der Arbeitszeit. Der Mitarbeiter kann sich unterwegs am Arbeitsplatz per Tastendruck „einstempeln“ – minutengenau. Manche Apps bieten sogar eine GPS-Erfassung. Diese Apps müssen dann aber auch allen datenschutzrechtlichen Anforderungen genügen, damit aus der Zeiterfassung keine Überwachung des Mitarbeiters wird. Auch eine Kopplung der Handy-App mit dem Chip unter der Haut wäre für die Zukunft denkbar. Dann etwa könnte nur der Mitarbeiter mit dem Chip das Handy und die App entsperren.

Wie sieht die Arbeitszeiterfassung aktuell aus?

In allen klassischen Berufen, die fixe Start- und Endzeiten haben, lässt sich auch die Arbeitszeit einfach erfassen. Doch das heißt nicht, dass alle High-Tech-Unternehmen die Vertrauensarbeitszeit predigen. So setzt etwa der Düsseldorfer IT-Dienstleister Sipgate eine digitale Stempeluhr ein. Philipp Dohmen, Mitarbeiter bei Sipgate, beschreibt die Entscheidung so: „Bei Vertrauensarbeitszeit arbeiten die meisten Leute eher mehr.“ Die Arbeitszeiterfassung diene daher der eigenen Kontrolle. Die Mitarbeiter bekommen eine Warnung, wenn sie zu viele Überstunden ansammeln.

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