Landtagswahl in Thüringen 1,8 Millionen Menschen wählen in Thüringen den Landtag neu

Thüringen · In Thüringen sind am 27. Oktober 1,8 Millionen Menschen dazu aufgerufen, den Landtag neu zu wählen. Dies entspricht etwa drei Prozent der deutschen Wahlberechtigten.

 Symbolbild.

Symbolbild.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Thüringen ist ein übersichtliches Land. Die größte Stadt Erfurt zählt kaum mehr als 200.000 Einwohner, alle etwa 35 eingemeindeten Dörfer eingerechnet. Alle liegen sehr nahe beieinander. Der Ministerpräsident zum Beispiel kann aus seinem Bürofenster in der Staatskanzlei die Menschen dabei beobachten, wie sie ein paar Meter unter ihm in die Straßenbahn der Linie 2 einsteigen oder beim Italiener Pizza essen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er dabei einen Bekannten sieht, ist ziemlich hoch.

Lässt sich also ignorieren, was in Thüringen am 27. Oktober passieren wird? Schließlich sind dann gerade 1,8 Millionen Menschen dazu aufgerufen, den Landtag neu zu wählen, dies entspricht etwa drei Prozent der deutschen Wahlberechtigten. Bei näherer Betrachtung erweist sich das kleine Land allerdings als der zurzeit interessanteste Teil des ostdeutschen Politiklabors. Hier werden die gesellschaftlichen Konflikte der Zukunft ausgetragen. Hier lässt sich der Wandel der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert vorausschauend sezieren. Und hier, wo vor knapp fünf Jahren das erste rot-rot-grüne Experiment begann, könnte es am Sonntag in einer Woche erste Antworten auf Fragen geben, die für die ganze Republik Bedeutung haben.

Zum Beispiel: Radikalisiert sich die AfD noch stärker und kann die Linke ihre Präsenz in Ostdeutschland halten? Bildet sich die erste Minderheitsregierung nach jener, die zwischen 2010 und 2012 NRW regierte? Werden gar Linke und Union das tun, was sie immer ausgeschlossen haben – und über eine Zusammenarbeit reden?

Das Land, in dem dies verhandelt wird, entstand vor einem Jahrhundert aus vielen Minifürstentümern, die kaum Macht besaßen, aber dafür umso mehr schmucke Residenzen und Theater. Daran änderten auch zwölf Jahre NS-Diktatur und 40 Jahre DDR-Zentralismus nichts. Bis heute ist Thüringen besonders kleinteilig, aber dafür auch besonders kulturvoll, unterteilt in 17 Landkreise und in ein halbes Dutzend kreisfreier Städte, von denen neben Erfurt nur noch Jena mehr als ­100.000 Einwohner hat.

Sowieso besteht Thüringen zum Großteil aus dem, was als ländlicher Raum bezeichnet wird – und zu 30 Prozent aus Wald. Die Industriedichte ist dennoch hoch, selbst wenn sie nahezu ausschließlich aus vielen kleinen und wenigen mittelständischen Unternehmen besteht. Obwohl es nach wie vor an Eigenkapital und Forschungskapazitäten fehlt, ist die Arbeitslosigkeit geringer als im restlichen Osten – und auch als in Nordrhein-Westfalen.

Politisch war Thüringen seit 1990 für fast ein Vierteljahrhundert CDU-Land. Unter Bernhard Vogel, der in Thüringen seine zweite Ministerpräsidentenkarriere absolvierte, wurde das Land bis in das kleinste Rathaus hinunter schwarz. 1999 kam die Union sogar auf 51 Prozent und nannte sich Thüringenpartei.

Aber nichts ist lange von Bestand in Ostdeutschland, wo die Jahrzehnte des Realsozialismus gefolgt wurden von Jahrzehnten des Aufbaus, der Abwanderung und dem, was die Soziologen Transformation nennen. Nach einem Jahrhundert voller Brüche existieren in den neuen Ländern kein gewachsenes Bürgertum, keine größeren Konfessionsgruppen und keine stabilen politischen Milieus.

So war 1999, das Jahr des größten Triumphs der CDU, auch das Jahr, in dem ein gewisser Bodo Ramelow in die PDS eintrat und erstmals in den Landtag einzog. Der Mann, der 1990 als Gewerkschaftssekretär von Hessen nach Thüringen kam, führte fortan die Partei mit jeder Wahl zu neuen Rekordergebnissen. Konnte die CDU 2004 ihre absolute Mehrheit noch einmal knapp verteidigen, besaßen Linke, SPD und Grüne 2009 erstmals gemeinsam eine Mehrheit. Nur weil die Sozialdemokraten noch nicht bereit waren, als Juniorpartner unter Ramelow zu regieren, klappte es noch nicht mit einem Politikwechsel.

Die SPD ging stattdessen in eine Koalition unter Führung der CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, die den glücklosen Vogel-Nachfolger Dieter Althaus abgelöst hatte. Die Regierung funktionierte einigermaßen und die Umfragewerte stiegen wieder, bis Personalaffären die Regierungschefin und ihre Partei beschädigten. Bei der Landtagswahl 2014 nutzten Linke, SPD und Grüne ihren hauchdünnen Vorsprung. Mit der Mehrheit von einer Stimme wählten sie Ramelow zum ersten linken Ministerpräsidenten Deutschlands. In den folgenden Jahren schaffte es die Dreierkoalition, trotz interner Streitigkeiten über Privatschulen, Windräder und das Landesamt für Verfassungsschutz nach außen hin als zumeist harmonisches Bündnis zu wirken. Linke und SPD ertrugen es sogar, dass die Grünen an ihrem Justizminister festhielten, obwohl dieser sein Amt genutzt hatte, um seinem Sohn eine gesetzlich vorgeschriebene Schulprüfung zu ersparen.

Allerdings hatte Rot-Rot-Grün auch enormes Glück. Dank der konjunkturbedingten Rekordeinnahmen, die sich mit jedem Jahr steigerten, konnte die Koalition ausgeglichene Haushalte vorlegen, die Investitionen erhöhen, die Kindergartengebühren teilweise abschaffen und trotzdem eine Milliarde Euro an Altschulden abbauen. Als größtes Minus gilt das Aus der Kreisreform, die nach vielen eigenen Fehlern und einer Niederlage vor dem Verfassungsgericht gestoppt werden musste.

Wenn also die CDU jetzt behauptet, dass die Linke den Systemwechsel in Thüringen eingeleitet habe, ist das vor allem Wahlkampfpolemik. Das Kabinett Ramelow betrieb eine sozialdemokratisch geprägte Politik, verziert mit grünen Initiativen und linksideologischer Symbolpolitik. Im Bundesrat stimmte die Landesregierung in der Regel mit den SPD-geführten Ländern, wobei der Ministerpräsident auch schon mal entgegen aller Parteilinien für die Pkw-Maut votierte, um im Gegenzug mehr Geld für den Regionalverkehr zu bekommen.

Überhaupt gab sich Ramelow pragmatisch und parteifern, auf den Wahlplakaten lässt er sich ohne Parteilogo abbilden. Zwar mag der Vorwurf der Opposition, dass es sich bei seiner Distanz zur Linken um Taktik handele, zum Teil zutreffen. Aber der einzige linke Regierungschef agiert in vieler Hinsicht ähnlich eigenständig wie der einzige grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Auch daraus erklärt sich die relativ hohe Popularität des Linken.

Der Start der ersten rot-rot-grünen Regierung markierte auch den Beginn des Aufstiegs der AfD. Der Einzug in den Erfurter Landtag im Herbst 2014 war einer der frühen Erfolge der Partei. Landes- und Fraktionschef Björn Höcke baute Thüringen als Zentrum des von ihm 2015 gegründeten rechtsnationalistischen „Flügels“ aus und wurde zum umstrittensten, aber auch bekanntesten Politiker der AfD. Dies alles führt zu der aktuellen, überaus komplizierten Gemengelage: Die Linke, deren Ergebnisse am 1. September in Sachsen und Brandenburg auf etwa zehn Prozent halbiert wurden, nähert sich in den Thüringer Umfragen den 30 Prozent. Das hat mit Ramelow zu tun, aber mehr noch mit dem Polarisierungseffekt, der von der inzwischen stabil über 20 Prozent liegenden AfD ausgelöst wurde – und der so wie bei vorangegangenen Landtagswahlen jeweils die Partei stärkt, die den Ministerpräsidenten stellt.

Alle anderen Parteien drohen, dazwischen zerrieben zu werden. Das betrifft vor allem die bislang stärkste Landespartei CDU, die unter ihrem Vorsitzenden Mike Mohring in den Umfragen auf Platz drei hinter Linke und AfD gefallen ist. Aber auch die Grünen, die bei neun Prozent stehen, können nur eingeschränkt von dem positiven Bundestrend profitieren. Derweil nähert sich die SPD langsam der Fünf-Prozent-Hürde. Vor allem die SPD-Schwäche führt dazu, dass es für Rot-Rot-Grün noch knapper werden dürfte als 2014 – erst recht dann, falls es die bei vier bis fünf Prozent gehandelte FDP in den Landtag zurückschafft.

Was die Situation in Thüringen so besonders macht: Wenn die Umfragen recht behalten, kommen AfD und Linke gemeinsam auf eine Art Blockademehrheit, also auf mehr als 50 Prozent. Daraus folgt, dass die CDU keine Mehrheitsregierung bilden könnte, da sie eine Zusammenarbeit mit diesen beiden Parteien kategorisch ausgeschlossen hat.

Auch darum orakelte zuletzt Altbundespräsident Joachim Gauck darüber, dass die Union vielleicht auch irgendwann mit einem wie Ramelow reden müsse. Aber dahinter steht noch ein Fragezeichen. Erste Antworten könnte es am 27. Oktober geben, im kleinen Thüringen.

Martin Debes (47) stammt aus Jena und ist Chefreporter der Thüringer Mediengruppe, zu der Thüringer Allgemeine, Thüringische Landeszeitung und Ostthüringer Zeitung gehören. Er betreut hauptsächlich die Landespolitik. Nebenbei schreibt er für die Zeit und Spiegel Online.

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