Vielfältiges Potenzial Wie wirkt Cannabis?

Bonn · Liebhaber feiern es als Allheilmittel, Kritiker verteufeln es als Psychosenauslöser. Gestorben ist noch niemand an einer Cannabis-Überdosis. Aber ganz so einfach ist die medizinische Einordnung und ihr Nutzen noch nicht. Ein Überblick.

Raphael Mechoulam ist überzeugt von den Wirkstoffen der Cannabispflanze. „Wir haben hier ein perfektes Medikament: ein Mittel, das der Körper selbst produziert und abbaut“, sagte er einst. Denn die Cannabinoide im Hanf kommen im Körper als Endocannabinoide vor (siehe Info-Kasten). Schon vor 50 Jahren identifizierte der israelische Wissenschaftler diese Stoffe. Viel gemacht hat aus den Erkenntnissen des Übervaters der Cannabisforschung bisher niemand. Weil Cannabis in den meisten Ländern immer noch illegal ist – und das Stigma schwer abzuschütteln.

Viele Mediziner scheuen sich, Cannabis als Medikament zu verschreiben: Keine andere Medizin wird geraucht, das bringt die Risiken des Rauchens mit sich und macht Cannabis schwer zu dosieren. Doch die Hauptwirkstoffe von Cannabis, THC und CBD (siehe Info-Kasten), kommen längst nicht mehr nur in Blütenform daher. Öle und E-Zigaretten bieten eine rauchfreie und leichter dosierbare Alternative.

Weiter kritisieren Mediziner, dass es bisher keine wissenschaftliche Grundlage für die Wirksamkeit von Cannabis gibt. Diese zu erzeugen, machte spätestens die Einführung der UN-Konvention gegen Drogen 1961 schwierig. Nichtsdestotrotz gibt es durchaus aussagekräftige Studien. Allein Raphael Mechoulam veröffentlichte 400 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema. Das kanadische Gesundheitsministerium hat die Forschung im Zuge der Legalisierung auf immerhin 266 Seiten zusammengefasst.

Status als Droge verhindert einen Großteil der Forschung

Demnach können Cannabisblüten oder Cannabinoide gegen chronische Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie sowie Zittern und Zuckungen bei Multipler Sklerose wirken. Die kanadische Ärztin und Expertin für chronische Schmerzen Dr. Sana-Ara Ahmed bezeichnet Cannabinoide als „unbesungenen Helden des chronischen Schmerzes“. Vielversprechend scheint CBD bei Epilepsie: Studien zeigen, der Wirkstoff könnte Anfälle verhindern, auch bei jener Epilepsie, bei der bekannte Medikamente wirkungslos sind. Dank CNN ging 2013 der Fall der kleinen Charlotte um die Welt. Sie leidet unter dem Dravet-Syndrom, wöchentlich hatte sie bis zu 300 Krampfanfälle. Seit ihre Eltern ihr CBD-Öl geben, hat sie nur noch zwei bis drei Anfälle – im Monat. Die Arzneimittelbehörde in den USA hat ein CBD-haltiges Mittel im Juni 2018 für Kinder ab zwei Jahren zugelassen, um zwei Arten von Epilepsie zu behandeln, darunter das Dravet-Syndrom.

Der kanadische Experte für Wundbehandlung Dr. Vincent Maida verschreibt seit mehr als 20 Jahren Cannabis. „Die Leute dachten, ich sei ein Quacksalber, ein Ketzer“, sagt er. Seine Erfolge sprechen eine andere Sprache: Eine ältere Patientin sei mit einer großen Wunde an der Wade zu ihm gekommen, die jahrelang offen gewesen sei. Kein Arzt habe ihr helfen können. Maida behandelte sie mit einer von ihm entwickelten Cannabis-Creme. Nach einem Monat habe sie keine Schmerzen mehr gehabt, nach sechs sei die Wunde geschlossen gewesen – ohne Narben zurückzulassen.

Weitere Untersuchungen deuten an, Cannabis könnte positive Effekte bei Angststörung, Migräne, Tourette-Syndrom, Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Schlaflosigkeit und Arthritis haben.

Natürlich kann Cannabis auch schädlich wirken. Blüten zu rauchen, bringt ähnliche Risiken mit sich, wie Tabak zu rauchen. Vor allem THC kann die Wahrnehmung, die motorischen Fertigkeiten und das Erinnerungsvermögen einschränken, teilweise auch für längere Zeit nach dem Konsum. Auch das Fortpflanzungssystem könnte unter Cannabis leiden.

Eindeutig belegen Studien: Es gibt eine Verbindung von Cannabis, besonders THC, und einem erhöhten Risiko, an Psychosen und Schizophrenie zu erkranken. Starker THC-Konsum kann auch bei Depressionen, Angstzuständen und PTBS-Symptomen eine Rolle spielen. Besonders gefährlich ist Cannabis für Jugendliche. „Das Gehirn entwickelt sich bis zum Alter von etwa 25 Jahren“, erklärt Kinderarzt Umesh Jain. Wer als Jugendlicher Cannabis konsumiere, riskiere, sein Hirn dauerhaft zu schädigen.

Bis heute ist niemand an einer Cannabis-Überdosis gestorben

Bisher gibt es keinen dokumentierten Todesfall durch Cannabis-Überdosis. Durch eine Überdosis opioidhaltiger Schmerzmittel wie Oxycodon und Fentanyl hingegen sterben allein in den USA jedes Jahr Zehntausende – fast die Hälfte durch verschriebene Mittel. Auf Opioide könnten Cannabis-Patienten eventuell verzichten, deuten Studien an.

Der kanadische Pharmaberater Michael Boivin warnt davor, sich selbst zu therapieren: „Cannabis ist kein Allheilmittel.“ Vorher sei der Weg zum Arzt sinnvoll. In Kanada können Mediziner Cannabis gegen jegliche Symptome verschreiben. Auch in Deutschland entscheidet der Arzt, aber das Gesetz schließt nur Schwerkranke ein. Außerdem stellen sich die Krankenkassen oft quer und hebeln die Therapiehoheit der Ärzte aus. Zwar sind die Kassen verpflichtet, einen Antrag auf Kostenerstattung zu übernehmen, in der Realität lehnen sie aber noch ein Drittel der Anträge ab.

Was das Gesamtbild der Studien zeigt: THC und CBD wirken unterschiedlich – ihr Verhältnis zueinander beeinflusst den Effekt einer Züchtung. Und: CBD kann Nebenwirkungen von THC aufheben. Auch ob Cannabis über die Lunge oder den Magen aufgenommen wird, spielt eine Rolle. Im Vergleich zu anderen Medikamenten muss die Dosis nicht regelmäßig gesteigert werden, weil der Körper anscheinend keine Toleranz gegenüber den positiven Effekten aufbaut. Eine von vornherein zu hohe Dosis schadet aber.

Trotz dieser Ansätze existiert noch ein wissenschaftliches Vakuum. Ihm gegenüber steht viel „anekdotische Evidenz“: Tausende können aus Erfahrung genau sagen, gegen welche Symptome ihnen Cannabis hilft. Nur mehr Forschung kann aus diesen Geschichten Fakten machen. Damit bald jeder Patient die passendste Therapie erhält.

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