Deutscher Suchtatlas 2017 Tablettensucht stärker als Alkohol

Berlin · Bis zu 1,9 Millionen Bürger sind in Deutschland von Medikamenten abhängig. Aber auch die Sucht nach Alkohol bleibt groß: Jeder Deutsche nimmt pro Jahr im Schnitt 9,6 Liter reinen Alkohol zu sich.

In Deutschland sind mehr Menschen von Tabletten abhängig als von Alkohol. Wie die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bei der Vorstellung ihres Jahrbuches Sucht 2017 am Dienstag in Berlin betonte, galten 2015 bis zu 1,9 Millionen Bundesbürger als medikamentenabhängig, bei 1,77 Millionen Deutschen, die als alkoholsüchtig gelten. Der Pharmakologe Gerd Glaeske, Mitglied des Wissenschaftlichen Kuratoriums der DHS, sagte, die Abhängigkeit von Medikamenten sei nach der Nikotinsucht, aber noch vor Alkoholsucht die zweitstärkste Abhängigkeit in Deutschland.

Vor allem Frauen über 65 Jahren seien überdurchschnittlich häufig von Medikamenten abhängig, meist von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. „Die Arzneimittelabhängigkeit ist alt und weiblich“, so Glaeske. Als einen Grund nannte der Gesundheitswissenschaftler Glaeske den Personalmangel in der Pflegebranche. In vielen Alten- und Pflegeheimen würden „ganze Abteilungen in einem Dämmerzustand gehalten. Das ist ein billiger Ersatz für die notwendige personelle Dichte.“

2015 seien in Deutschland rund 1,5 Milliarden Arzneimittelverpackungen verkauft worden. Vier bis fünf Prozent aller viel verordneten Arzneimittel besäßen „ein eigenes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial“, darunter vor allem die Schlaf- und Beruhigungsmittel. Zehn bis zwölf Prozent der nicht rezeptpflichtigen Mittel hätten gleichfalls Missbrauchspotenzial, darunter Abführmittel, bestimmte Schmerzmittel oder auch abschwellende Nasentropfen.

Unverändert neigen Millionen Bundesbürger weiter zu riskantem Trinken. 2015 nahm statistisch jeder Bundesbürger 135,5 Liter an alkoholischen Getränken zu sich, davon 105,9 Liter Bier sowie 20,5 Liter Wein im Jahr, wie die DHS mitteilte. Der Alkoholkonsum in Deutschland ist mit umgerechnet 9,6 Litern reinen Alkohol im internationalen Vergleich weiter besonders hoch. Unter der Berücksichtigung, dass der meiste Alkohol von 15- bis 65-Jährigen getrunken wird, steigt der Durchschnittsverbrauch der Bevölkerungsmehrheit auf 14,6 Liter reinen Alkohol.

Der stellvertretende Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, Peter Raiser, nannte als Gründe für den hohen Alkoholkonsum die leichte Verfügbarkeit, den meist günstigen Preis und die starke Werbung für alkoholische Produkte. Laut OECD hatte Deutschland unter 28 EU-Staaten in den Jahren 2013/2014 den elfthöchsten Verbrauch von Alkohol. Der Suchtstatistik zufolge werden jährlich rund 74.000 Todesfälle in Deutschland durch Alkohol oder Konsum von Tabak und Alkohol verursacht.

121.000 Menschen starben an den Folgen des Rauchens

Die Nikotinsucht steht aber weiter auf Platz eins der Abhängigkeiten. Martina Pötschke-Langer, ebenfalls Mitglied im Wissenschaftlichen Kuratorium der DHS, kritisierte die mangelhafte Prävention vor Nikotinmissbrauch und Nikotinsucht. Deutschland sei EU-weit das einzige Land, das noch Tabakaußenwerbung erlaube oder das Sponsoring durch Tabakkonzerne gestatte: „Das ist der eigentliche Skandal in Deutschland.“

Sie sprach sich für eine spürbare Anhebung der Tabaksteuer in Deutschland aus. Immer noch sei Rauchen in den Industrienationen die führende Ursache vorzeitiger Sterblichkeit. Allein in Deutschland seien 2013 rund 121.000 Menschen an den Folgen des Rauchens gestorben. Hinzu kämen etwa 3300 durch Passivrauchen. Die durch das Rauchen verursachten Kosten betragen laut DHS rund 79 Milliarden im Jahr bei Nettoeinnahmen aus der Tabaksteuer von 14,2 Milliarden Euro.

Die gute Nachricht: „80 Prozent aller erfolgreichen Ex-Raucher haben es geschafft von einem Tag auf den anderen aufzuhören“, machte DHS-Kuratoriumsmitglied Pötschke-Langer aussteigewilligen Rauchern Mut. Sie warnte zudem vor der Annahme, die E-Zigarette würde Raucher aus der Nikotinsucht führen. Pötschke-Langer: „Die E-Zigarette hält den Verbraucher in der Nikotinsucht. Es gibt keine Überlegenheit der E-Zigarette, was die Tabakgewöhnung betrifft.“ Zwar sei das „Chemikaliengemisch“ der E-Zigarette „deutlich weniger gefährlich“, doch sei auch der Gebrauch der E-Zigarette „kein Freifahrtschein“. Zudem könnten E-Zigaretten ein mögliches Einstiegsprodukt für Jugendliche in die Nikotinsucht sein.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort