Nach Messerangriff in Berlin Polizei erschießt Flüchtlingsvater

Berlin · Erschütterung und Trauer in Berlin. Die Polizei wird zu einer Flüchtlingsunterkunft gerufen. Eine Sechsjährige soll missbraucht worden sein. Dann gerät das Geschehen außer Kontrolle. Ein Asylbewerber stirbt.

Es ist eine doppelte Tragödie. Ein kleines Mädchen aus einer Berliner Flüchtlingsunterkunft wird vermutlich von einem Mitbewohner missbraucht. Dann stürzt ihr Vater sich mit einem Messer auf den Verdächtigen, der schon gefesselt in einem Polizeiwagen sitzt. Mehrere Beamte ziehen ihre Waffen und feuern auf den Angreifer. Der 29-Jährige erliegt wenig später in der Nacht zum Mittwoch seinen Verletzungen. Der Asylbewerber hinterlässt drei Kinder und seine Ehefrau. Sie sind seit einigen Monaten in Deutschland. Das mutmaßliche Missbrauchsopfer ist sechs Jahre alt.

„Das geht vielen sehr nahe. Das ist ein ganz furchtbarer, tragischer Fall“, sagt der Sprecher des neuen Berliner Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten, Sascha Langenbach, sichtlich erschüttert. Die Familie des toten Flüchtlings werde von Seelsorgern betreut, sie werde in eine andere Unterkunft gebracht.

Über Monate herrschte in der Hauptstadt Chaos bei der Unterbringung von Asylsuchenden, Bilder von verzweifelt wartenden Menschen gruben sich ins Gedächtnis. Doch seitdem der Flüchtlingsstrom durch das Abkommen mit der Türkei abriss, schien die Situation beherrschbarer geworden zu sein. Nun dieser Fall, der viele entsetzt.

Wie konnte es dazu kommen? Es gibt keine eindeutigen Antworten. Der mutmaßliche Täter - kein Landsmann des Vaters - soll die Kleine am Dienstagabend in einen nahen Park gelockt und sich an ihr vergangen haben. Mitbewohner rufen die Polizei, die den 27-Jährigen festnimmt.

Wollte der Vater mit der Messerattacke die Ehre seines Kindes retten, hatte er kein Vertrauen in die Justiz oder wusste er nicht, dass die Behörden die Vorwürfe in jedem Fall prüfen? Auch hier gibt es keine Antworten. Offen war noch, ob gegen den 27-Jährigen, der ohne Familie nach Deutschland kam, ein Haftbefehl beantragt wird.

In der betroffenen Unterkunft mit rund 250 Bewohnern in der Kruppstraße im Stadtteil Moabit sind laut Langenbach alleinreisende Männer und Familien getrennt untergebracht. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Moldau. Es gebe strenge Richtlinien für den Kinderschutz - die würden in allen Einrichtungen sehr ernst genommen, betont der Sprecher.

Ein Sprecher der Stadtmission, die die Unterkunft betreibt, weist Vorwürfe von katastrophalen Zuständen zurück. „Wir haben den Integrationspreis für diese Unterkunft bekommen.“ Er äußert sich nicht zu Gerüchten, wonach der Tatverdächtige schon öfter aufgefallen sein soll. „Es ist ein laufendes Verfahren.“

Seit 2015 hat Berlin mehrere Zehntausend Flüchtlinge aufgenommen, ein Teil lebt noch in Turnhallen sowie in Hangars auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof. Es gebe Bedingungen, die Übergriffe und Missbrauch begünstigen, sagt Linke-Politiker Hakan Tas. Es müsse alles getan werden, um die Menschen schnellstmöglich in Wohnungen unterzubringen.

Nicht nur Attacken und Schlägereien unter Asylsuchenden werden deutschlandweit immer wieder registriert. Auch Wachleute gerieten in den Verdacht, Flüchtlingsfrauen sexuell belästigt zu haben.

In dem Berliner Fall gibt es eine weitere Frage: Warum schoss die Polizei? Gab es kein anderes Mittel? Laut Staatsanwaltschaft feuerten vermutlich drei Polizisten mehrere Schüsse aus mehreren Waffen ab. Es sei den Beamten zunächst nicht gelungen, den Vater aufzuhalten, als er mit dem Messer auf den mutmaßlichen Täter in dem Polizeiauto zustürmte, so Sprecher Martin Steltner. In dem „dynamischen Geschehen“ sei dann geschossen worden.

Noch-Innensenator Frank Henkel (CDU), der nach der verlorenen Wahl zum Abgeordnetenhaus demnächst seinen Stuhl räumen muss und der sich in der Vergangenheit oft ausführlich zur Polizei äußerte, schweigt. Er hatte noch vor der Wahl den Einsatz von Elektroschock-Waffen angekündigt. Die sogenannten Taser erweiterten die Möglichkeiten, kritische Situationen aufzulösen und Leben zu retten, hatte der CDU-Politiker verkündet. Doch was daraus wird, ist unklar.

In Berlin haben Polizeischüsse mehrfach für Schlagzeilen gesorgt. Allein in diesem Jahr machten die Beamten bisher in 52 Fällen Gebrauch von ihrer Waffe - wie oft sie gegen Menschen gerichtet wurde, ist laut Polizei aber noch nicht ausgewertet. 2015 hatten Polizisten 77 Mal geschossen, davon 56 Mal auf Tiere, ein Dutzend Fälle ist noch als offen gelistet.

Indes warnen beide Polizeigewerkschaften vor einer Vorverurteilung der Einsatzkräfte. Der Landeschef der Gewerkschaft im Beamtenbund, Bodo Pfalzgraf, sagt, die Polizisten hätten Selbstjustiz verhindern und sich selbst schützen müssen. „Polizisten wollen nicht töten, aber wenn sie vom Staat kein anderes Einsatzmittel bekommen, werden sie dazu gezwungen.“ (dpa)

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