Nobelpreis für die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch Moralische Autorität

Swetlana Alexijewitsch ist ja schon länger im Geschäft. Aber weiter bewegen sie die gleichen, alten Fragen. In einem Interview, das sie Ende September gab, erzählt sie aus einer Episode ihres jüngsten Romans "Second Hand-Zeit", den sie eigentlich über das postsowjetischen Leben in den chaotischen 90er Jahren geschrieben hat.

 Stimme gegen das Unrecht: Swetlana Alexeijewitsch gestern in Minsk. FOTO: DPA

Stimme gegen das Unrecht: Swetlana Alexeijewitsch gestern in Minsk. FOTO: DPA

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Einer der Figuren erinnert sich daran, wie er als Heranwachsender in seine Tante Olga verliebt war. Aber dann erfuhr er, dass sie in der Stalinzeit den eigenen Bruder verpfiffen hatte und der in einem Straflager umkam. Das quälte den Mann, als er hörte, dass seine Tante im Sterben lag, ging er zu ihr. "Tante Olga erinnerst du Dich an das Jahr 1937?" Sie sagt: "Im Jahr 1937, da war ich glücklich. Ich liebte und wurde geliebt."

Und dann fragt er: "Und dein Bruder, Onkel Sascha." Sie antwortet: "Dann geh doch und finde jemanden, der 1937 ein ehrlicher Mensch gewesen ist". Das menschliche Böse, die menschliche Gemeinheit, das seien weder Stalin noch Beria, sagt Alexijewitsch, sondern jene schöne Tante Olga.

Alexijewitsch kam 1948 in der sowjetischen Westukraine zur Welt, wurde im ebenso sowjetischen Weißrussland erwachsen, als junge Minsker Journalistin versuchte sie sich erst an Reportagen dann an dokumentarischer Prosa und erregte damit im sowjetischen Literaturbetrieb erstes Aufsehen. Sie schreibt bis heute auf Russisch, ist dabei erklärte Europäerin, nach dem Zerfall der Sowjetunion verbrachte sie zwölf Jahre in Italien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Aber vor zwei Jahren kehrte sie nach Weißrussland zurück.

Alexijewitsch schrieb von Anfang an über soziale, ins politische reichende, heikle Themen. Ihr erstes Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", eine Interviewsammlung mit Frauen, die im Krieg in der Roten Armee gekämpft hatten, kostete ihr 1983 ihren Job bei der Minsker Literaturzeitschrift Neman, und wurde erst drei Jahre später veröffentlicht, nachdem Michail Gorbatschow Generalsekretär geworden war.

In ihrem zweiten Buch, die "Letzten Zeugen" versuchte sie die Geschichte ihrer eigenen Familie im Krieg und unter Stalin aufzuarbeiten. Und geriet wieder an die gleichen, ewig aktuellen Fragen. "Ich habe Papa öfters gesagt: ,Wie konnten ihr damals nur schweigen?' Einmal habe ich danach sogar Tränen in seinen Augen gesehen. Heute würde ich so eine idiotische Frage nicht mehr stellen. Weil wir genauso schweigen." 1989 veröffentlichte Alexijewitsch eine weitere Interviewcollage, "Zinkjungen", für die sie mit über 500 sowjetische Veteranen sowie Mütter gefallener und in Zinksärgen nach Hause gebrachter Soldaten des Afghanistankriegs gesprochen hatte.

Sie befrage die Menschen nicht, um die Realität ihrer Zeit wiederzugeben, sondern um deren Gestalt zu schaffen, sagt sie. "Oft bleibt nach einem langen Tag voller Worte und Fakten nur ein einziger Satz zurück: ?Ich war noch so klein, als ich an die Front ging, dass ich im Krieg sogar noch gewachsen bin.'"

Es folgten 1993 im "Banne des Todes", ein dokumentarisches Buch über Selbstmörder, die am Zerfall der Sowjetunion zerbrochen waren, 1997 "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft", gewidmet den Opfern der Atomkatastrophe von Tschernobyl, und 2013 "Secondhand-Zeit".

Die Autorin wurde immer wieder angefeindet, geriet vor sowjetische, dann vor weißrussische Gerichte, aber sie hatte Glück mehr Glück, mit der Zeit in der sie lebte, als vieler ihrer Helden. Statt Verurteilungen folgten Theaterinszenierungen und Verfilmungen ihrer Werke. Alexijewitschs Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, in Europa, den USA, auch Russland wiederholt preisgekrönt. 2013 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Für den russischen Kulturkreis ist sie eine "Literaturfriedensnobelpreisträgerin", die auf Russisch schreibt, nicht einfach eine Literaturnobelpreisträgerin. Sondern jemand, der in jenen Olymp aufgestiegen ist, in dem zeitlose moralische Autoritäten wie Iwan Bunin oder Boris Pasternak versammelt sind. Die Nobelpreisjury erklärte gestern, Alexijewitsch erhalte den Preis "für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt".

Die weißrussische Europäerin wird so in diesem Olymp ihren Platz nicht neben dem Stalinisten Michail Scholochow einnehmen und auch nicht neben dem am Ende zum Putin-Patrioten geläuterten Sowjetdissidenten Alexander Solschenizyn. Sondern zwischen den "Westlern" und "Liberalen" Pasternak und Jossif Brodski.

Und schon träumt der Moskauer Publizist Oleg Kaschin, Alexijewitsch werde kraft ihrer literarischen Autorität zu jener moralischem Führungsfigur, die die zerbröselte russische Intelligenzija wieder gegen Wladimir Putin und sein Regime vereinen könne. Die neue Olympierin selbst gab sich gestern bei einer Pressekonferenz in Minsk durchaus kämpferisch: "Ich bin kein Mensch der Barrikaden. Ich mag sie nicht. Aber die Zeit drängt uns auf die Barrikaden, weil man sich schämt für das, was passiert." Obwohl Alexijewitsch eigentlich als nächstes ein Buch über die Liebe oder das Sterben schreiben wollte.

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